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Geistiges Kapital von gestern?

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Eine kürzlich von angelsächsischen Sozialpsychologen veranstaltete Rundfrage nach einem Symbol für unsere Zeit der großen Wandlungen brachte ein im Grunde voraussehbares Ergebnis. Am häufigsten wurde die Raumrakete genannt, es folgten die Atombombe und der Atomreaktor, dann das Auto, die Elektroturbine, die Werkzeugmaschine und der Bulldozzer.

Wäre ich befragt worden, so hätte meine Antwort gelautet: das Buch. Erst wenn man die Länder des Westens einmal hinter sich gelassen hat und sich in den sogenannten unterentwickelten Ländern umsieht, wird einem diese enorme Rolle des Buches klar. Die Werke der großen Naturwissenschaftler und Gesellschaftswissenschaftler des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts revolutionieren die Welt der nahenden Jahrtausendwende. Was gestern und vorgestern von Einzelgängern in den Lesesälen öffentlicher Bibliotheken oder kleinen Studierzimmer niedergeschrieben wurde, hat inzwischen hunderte Millionen von Menschen in Bewegung gesetzt und scheint als geistiges Ferment erst am Beginn noch größerer Wirkung zu stehen.

Auffällig aber ist es nun, daß diese wahrhaft weltbewegenden Schriften durchweg mindestens fünfzig Jahre alt sind. Seit 1920 sind zwar laut Statistik mehr neue Bücher erschienen als in allen vorhergehenden Jahrhunderten zusammengenommen, aber bisher hat meines Wissens keines von ihnen das Gesicht unserer Epoche so entscheidend beeinflussen können, wie es die Werke von Marx, Freud und Einstein vermochten.

Es ist also nicht das neue und schon gar nicht das neueste Buch, es ist nicht ein Buch unserer Generation, das als Symbol dieser zu gelten hätte, sondern es sind einige solid gebundene, nauffällig ausgestattete, ursprünglich in klein-. ten Auflagen verbreitete Sucher, die schon bei

Lebzeiten unserer Väter und Großväter erschienen.

Die Tatsache, daß wir trotz all des bestürzend Neuen, das uns umgibt, im Grunde immer noch von einem geistigen Kapital leben, das in der Viktorianischen und wilhelminischen Epoche angesammelt wurde, müßte nachdenklich stimmen. Gewiß haben sich Marxismus, Psychoanalyse und die moderne Physik weiterentwickelt, aber sie haben keine radikal neuen Anfänge gesetzt. Könnte es nicht sein, so bohrt ein innerer Zweifel, daß wir, die gleiche Generation, der es vorbehalten blieb, die noch verbleibenden Rohstofflager der Erde mit Methoden radikaler Ausbeutung regelrecht zu plündern, auch im Geistigen nur „verarbeiten“ statt neu zu schöpfen?

Die vielen verschiedenen Gründe, die dafür verantwortlich zu machen sind, können wir heute noch nicht ganz überblicken. Aber eines dieser Momente läßt sich vielleicht doch schon konstatieren: Es ist für einen wahrhaft radikalen, originellen Geist nicht etwa leichter, sondern unendlich viel schwerer geworden, seine Arbeiten zu publizieren, als dies noch vor fünfzig Jahren der Fäll war. Diese Feststellung scheint der heute so viel verbreiteten Behauptung zu widersprechen, daß Autoren noch nie so leicht Verleger gefunden hätten wie heutzutage. Gewiß, die Büchermacher suchen „junges Blut“ und „neue Namen“, aber verlangen sie von ihnen auch wirklich neue Gedanken?

Stellen wir uns einmal vor, Karl Marx müßte heute einen Verleger suchen: Ein bisher publizistisch nur in einem kleineren Provinzblatt hervorgetretener Autor brächte da ein mehrbändiges Manuskript über nationalökonomische Fragen angeschleppt, in dem nicht nur eine völlig neue Auffassung des betreffenden Fachgebietes angeboten, sondern überdies „Grenzüberschreitungen“ zur Philosophie und Politik hin unternommen werden. Es würden die als Experten herbeigeholten Volkswirtschaftler vermutlich über so viel „Dilettantismus“ die Nae rümpfen und eine sofortige Ablehnung befürworte. Vermutlich käme es: aber nicht einmal bis zu einer Prüfung durch derartige Fachleute. Denn der präsumtive Verleger von 1960 würde wahrscheinlich schon ablehnen, wenn er nur den Umfang des Werkes sähe. Noch dazu: Nicht einmal Universitätsprofessor ist der Mann! „Wir bedauern daher, sehr geehrter Herr Marx, Ihr Werk nicht in unsere diesjährige Verlagsproduktion aufnehmen zu können . ..“

Damit man nicht glaube, daß es sich hier nur um eine Hypothese handle, möchte ich auf ein Beispiel verweisen, das mir persönlich etwas näher vertraut ist. Der 1957 verstorbene Westschweizer Adrien Turel, ein großer prophetischer Geist, dessen aus philosophischen, soziologischen, biologischen, physikalischen und entwicklungsgeschichtlichen Quellen gespeiste Arbeiten wahrhaft zukunftsweisend sind, konnte in den letzten zehn Jahren seines Lebens seine Werke nur noch auf der Vervielfältigungsmaschine „drucken“ und im eigenen „Verlag“ herausbringen. Dabei handelte es sich bei ihm nicht etwa um einen Anfänger, sondern um einen Mann, dessen Bücher in früheren risikobereiteren Jahren bei einem der größten deutschen Verleger erschienen waren.

Ein zweiter, mir genauer bekannter Fall: Philip Noel-Baker, sozialistischer Unterhausabgeordneter und langjähriger Minister, publizierte vor zwei Jahren in England ein ebenso vollständig dokumentiertes wie bahnbrechendes Buch über die Geschichte und die Probleme der Abrüstung. Er bekam für dieses Werk den Nobelpreis, einen deutschen Verleger von Rang bekam er dagegen nicht. Fünf erste Häuser der Verlagsbranche lehnten sein Werk als „zu lang“, „zu teuer in der Herstellung“, „zuwenig erfolgversprechend“ ab, und erst als durch eine Stiftung ein Druckkostenbeitrag zugesagt wurde, fand sich schließlich ein Herausgeber.

Wollte man heute wenigstens in Umrissen skizzieren, wie möglicherweise ein Buch von ähnlich revolutionären Qualitäten aussehen würde, die den Werken von Marx, Freud und Einstein seinerzeit zu eigen waren, so könnte man sagen: Es wird vermutlich ein Buch sein, das aller „Facherfahrung“ widerspricht, das die Grenzen zwischen den verschiedenen künstlerischen und wissenschaftlichen „Sparten“ niederreißt und das — da es ganz Unerwartetes und Neuartiges bietet — zunächst einmal schwer verkäuflich sein dürfte.

Wie viele heutige Verleger deutscher Sprache würden es sich leisten, ein solches Buch, das nicht auf „Nummer Sicher“, sondern auf „Nummer Unsicher“ ginge, zu publizieren? Ich sehe wohl eine Anzahl von Firmen, die vielleicht sogar das Risiko des finanziellen Mißerfolges auf sich nehmen würden, ich sehe aber keinen einzigen ernst zu nehmenden Verleger, der nicht vor dem möglichen Vorwurf der „Unseriosität“ zurückschrecken würde I

Wie „unseriös“ und „schockierend“ schienen aber die Analysen und Behauptungen von Karl Marx, oder gar die Behauptungen von Sigmund Freud, als sie zuerst gedruckt wurden. Und sie wurden dennoch gedruckt! Sollte nicht etwas von der Unbekümmertheit, welche die Verleger der drei großen „Umwandler“ in der damals „reaktionär“, „steif“ und „prüde“ verschrieenen Epoche bewiesen, auch in unserer Zeit auferstehen, die mit der Veröffentlichung „gewagter“ Romane mehr Geschäftssinn als wirklichen Mut und echte Vorurteilslosigkeit beweist?

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