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Gerechtigkeit für beide ?

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Sehr geehrter Herr Herausgeber!

Die Zuschrift „Gerechtigkeit für beide" in der Nummer 55 Ihres Blattes veranlaßt mich, auf dieses Problem' noch kurz zurückzukommen.

Der Verfasser dieses Schreibens hat als Staatsbeamter die Frage der Wiedergutmachung natürlich nur vom Standpunkt des in seiner Laufbahn Geschädigten behandelt und fordert nun als weitere Entschädigung die doppelte Anrechnung seiner unterbrochenen Dienstzeit, da ihm „mit materiellen Zulagen für die Geschädigten, wie sie bereits in Erwägung gezogen wurde, nichts getan“ erscheint. Der Briefschreiber hat über seinem Problem anscheinend vollkommen vergessen, daß der letzte Krieg noch eine endlose Zahl anderer Wiedergutmachungsprobleme ungelöst, weil unlösbar, gelassen hat, Schicksale, mit denen verglichen Sines als geradezu gnädig zu bezeichnen ist. Wenn schon von „Wiedergutmachung“ und „Gerechtiglįįit“ gesprochen wird: Wer sollte allen diesen zerschellten Existenzen etwas „doppelt" anrechnen? Wer von den Arbeitern und Angestellten der

Prlvatwlrtschaft, von den Angehörigen der freien Berufe hat je ernstlich die Förderung erhoben, für seine durch Nationalsozialismus und Krieg verlorene Existenz Wiedergutmachung zu fordern? Es gab in Österreich tausende Arbeiter und Angestellte der Privatwirtschaft, die in den dreißiger Jahren durch eine ungeheure Wirtschaftskrise arbeitslos und vielfach schon ausgesteuert waren und die sich schließlich nach vieler Mühe wieder eine bescheidene Existenz schaffen konnten. Viele von diesen waren gleichfalls weder Nationalsozialisten noch schuld an „Unbruch" und Krieg. Letzterer hat diesen Vielfach nicht nur die Existenz und die Karriere unterbrochen, sondern nicht wenige von ihnen standen nach ihrer Rückkehr vor den verschlossenen Türen ihrer einstigen Arbeitsstätten. Ihr Weg führte wieder einmal zum Arbeitsamt, nur, daß sie inzwischen um Jahre älter geworden waren. Keiner von diesen Staatsbürgern, die wieder einmal von neuem beginnen sollten, dachte daran, vom Staat eine „Wiedergutmachung“ zu fordern. Hätte sie ihnen das kleine, ausgeplünderte Österreich auch geben können? Und dabei waren diese nicht einmal die am härtesten vom Schicksal Betroffenen.

Wenn also die Forderung gestellt ist; „Gerechtigkeit für beide“, dann müßte sie notwendigerweise erweitert werden auf: „Gerechtigkeit für alle“ — und das gibt es nicht. Dem Briefschreiber müßte also klar sein, daß es in diesem Komplex von Problemen keine Lösung gibt, die nur einigermaßen die Grenzen zwischen „Unrecht“ und „Gerechtigkeit" festzusetzen vermag, denn man kann nicht einer Kategorie von Arbeitnehmern doppelte Wiedergutmachung gewähren und die übrigen mit leeren Händen abseitslassen, da dies bestimmt nicht die „unbedingt änzustrebende wahre Versöhnung“ wäre, an welcher dem Verfasser besagter Zuschrift soviel gelegen ist.

Hans Wirth, Wien XIX, Gebhardtgasse 1 21

hätte. Ein weiterer Fehler war vielleicht der mangelnde Wille zur Selbsthilfe, denn man erwartete allzulang eine Regelung aller Fragen durch den Staat oder das Ausland, überdies besteht eine ungesunde Eifersucht zwischen den einzelnen Gruppen. Die Sudetendeutschen sind den Südostdeutschen und diese wieder jenen gram. Und schließlich vergleicht man vielfach ganz unzutreffend die Leistungen Westdeutschlands für die Vertriebenen mit denen Österreichs. Dabei übersieht man, daß die Bonner Bundesrepublik große Beträge aus Amerika erhielt, um die Flüchtlingsfrage zu mildem, während diese Hilfe Österreich versagt geblieben ist. Aus Augenzeugenberichten und Briefen ist bekannt, daß dagegen die Vertriebenen in Ostdeutschland unter weit ungünstigeren Verhältnissen leben als in Österreich.

Zusammenfassend darf gesagt werden, daß es in den letzten sieben Jahren für die Opfer von Potsdam in Österreich wesentlich leichter geworden ist, wenn auch noch viel getan werden muß, um menschliche Vorurteile auf beiden Seiten zu überwinden und den Weg zu einer völligen wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung freizumachen.

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