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Gesprch uber die Atomkern!

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Seit der Explosion der Atombombe in Hiroshima waren schon mehrere Jahre verflossen, aber erst heute ist es mir gelungen, mit dem berühmten Physiker zu sprechen, dem der Hauptanteil an dieser schreckenerregenden Erfindung zuzuschreiben ist.

Zu Professor Ernest O. Lawrence vorzudringen ist alles andere als leicht, denn die Atomwissenschaftler werden anscheinend ähnlich überwacht wie berüchtigte Gangster. Doch lag mir gar zu sehr daran, in ein Gespräch mit dem Erfinder des Zyklotrons zu kommen, der, gemeinsam mit Oppenheimer, jene neue Methode der Atomzertrümmerung entwickelt hat, durch die erst die Herstellung der berühmten Bombe möglich wurde.

Nach etlichen fehlgeschlagenen Annäherungsversuchen gelang es mir endlich, mit Lawrence zu sprechen. Vor allem hatte ich den Wunsch, zu erfahren oder erraten zu können, ob er sich des Problems der moralischen Verantwortung für die furchtbare Erfindung bewußt war, die er mit einigen wenigen anderen gemacht hatte. Ohne meine Zeit mit der Bitte um wissenschaftliche Erläuterungen zu verlieren, die er mir kaum gegeben und für die mir das Verständnis gefehlt hätte, stellte ich alsbald in brutaler Offenheit die brennende Frage:

„Was ist Ihre Empfindung, Mr. Lawrence, bei dem Gedanken an die Verheerungen, die Ihre Entdeckung bereits zur Folge gehabt hat, und an die weiteren, wohl noch viel ärgeren, die die Zukunft uns vorbehält?“

Mein mörderischer Professor kam durchaus nicht aus der Fassung und antwortete in engelhafter Ruhe:

„Ich darf annehmen, daß Sie, ganz allgemein gesprochen, verstehen, was Wissenschaft ist und wohin zu allen Zeiten, mindestens seit den Tagen eines Thaies, das Streben der Wissenschaftler zielt. Sie kümmern sich durchaus nicht um die möglichen praktischen Auswirkungen, die nützlichen oder die schädlichen, ihrer Erforschungen und ihrer Theorien. Ihr Bestreben ist lediglich, Hypothesen zu ersinnen und Formeln auszudenken, die eine annähernde Vorstellung und annehmbare Deutung des Weltalls und seiner Gesetze ermöglichen. Die Begründer der modernen Kernphysik, Rutherford, Niels Bohr und andere, haben weder daran gedacht noch vorausgesehen, daß ihre Entdeckungen der Menschheit dazu helfen würden, e-'nes Tages eine Bombe herzustellen, die geeignet ist, binnen wenigen Sekunden Tausende von Menschenleben zu vernichten. Nichts anderes hatten sie im Auge als die Erforschung der Geheimnisse des Atoms, jenes letzten Partikelchens der Materie, das bis dahin, all die Jahrhunderte her,als unteilbar und jeder Zergliederung widerstehend gegolten hatte. Mit einem Wort, sie wollten erschauen, nicht zerstören. Ich selbst hatte mit dem Zyklotron ganz einfach im Sinne, die Bewegungen der elektrischen Partikeln zu rein experimentellen Zwecken zu beschleunigen. Hernach kamen die Militärs und die Politiker, um sich unserer Entdeckungen zu einem der weitestgespannten Ziele des Wett-eiferns der Menschheit zu bedienen: zur raschen und massenweisen Vertilgung menschlichen Lebens.

Das ist die ewige Tragödie der Menschheit. Sie kann das Forschen, das Begründen, das Erkennen nicht lassen, und fast immer bringen ihr die Entdeckungen Unglück und Tod. Die Kernphysik ist der tragischeste Akt dieses magischen Spiels: weil der Mensch das Geheimnis der Atome entschleiern wollte, hält er jetzt in seinen Händen das Mittel, sich selbst zu vernichten, das Leben in jeder seiner Erscheinungsformen, vielleicht sogar unseren ganzen Planeten zu vernichten.“

„Ich verstehe vollkommen“, versicherte ich, „aber fühlen Sie nicht trotz alledem den Schauer der Reue? Wäre es nicht besser, den Erkenntnistrieb zu unterdrücken, um das Leben der Menschheit zu schonen?“

Mit seiner ruhigen Stimme hob Professor Lawrence wieder an: „Ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß die Hekatomben menschlichen Lebens, die nicht Krankheit und Alter zur Ursache haben, in Friedenszeiten um vieles größer sind als die Opferzahl der Atombombe. Diese bringt innerhalb einer Minute vielen den Tod, während andere Ursachen sehr viel mehr Opfer fordern, die aber freilich sich auf Raum und Zeit verteilen. Rechnen wir ein wenig nach: Zählen Sie alle zusammen, die von ihresgleichen mit' Waffen und Gift ermordet werden; alle, die mit eigener Hand sich den Tod geben; die von Automobilen überfahren, bei Zugszusammenstößen zerquetscht werden oder in Flugzeugbränden lebendigen Leibes verkohlen; alle, die in Flüssen oder bei Schiffbrüchen ertrinken; die Arbeiter, die von Maschinen zermalmt werden, die Bergleute, die in der Tiefe ersticken oder von einstürzenden Gruben verschüttet werden; alle, die zur Strafe für ein Verbrechen an den Galgen oder vor die Gewehrläufe kommen; alle, die bei Aufständen von der Polizei niedergemacht oder vom Kartätschenfeuer zerrissen werden; alle, die bei Feuersbrünsten und Explosionen zugrunde gehen; alle, die bei Boxkämpfen oder Automobilrennen unvermutet den Tod finden; die in eine elektrische Hochspannung geraten oder wissenschaftlichen Experimenten zum Opfer fallen. Merken Sie wohl, daß ich die Opfer von Erdbeben, von Vulkanausbrüchen, von Blitz schlagen, von Bergstürzen und Lawinen außer acht lasse, und zählen Sie nur alle zusammen, die aus rein menschlichen Ursachen zum Sterben kommen: Sie' werden sehen, daß es auf der ganzen Erde, Jahr um Jahr, mehrere Millionen sind, also tausendmal mehr als die berüchtigte Atombombe vernichtet hat. Aber so wie diese armen Todesopfer in den verschiedenen Ländern, da und dort, verstreut sind und Tag für Tag von einem unnatürlichen Tod herausgegriffen werden, als fahre ein Rechen über die ganze Erde — und nur die Beflissenen der statistischen Wissenschaft wissen Bescheid um die schreckenerregende Gesamtzahl —, so erschüttert zwar die Episode von Hiroshima den einfachen Mann aufs tiefste, aber er denkt nicht an die anderen, viel zahlreicheren Todesfälle, die sich alle Tage auf unserer Erde ereignen. Das Mitgefühl bringt es nicht zustande, sozusagen homöopathisch zu empfinden, es lehnt sich nur gegen eine gleichzeitige Vernichtung von Menschenmassen auf.

Auch bei den unzähligen Unglücksfällen, die alle Tage vorkommen, gibt es ja immer Verantwortliche: Fabrikanten, Techniker, Aufseher, Verbrecher, Fahrlässige, Ungeschulte usw. Weshalb sollte also nur ich Gewissensbisse verspüren, da ich doch vor allem daran gearbeitet habe, die Kenntnisse der Menschheit über das Weltall zu erweitern, und lediglich aus Staatsbürgerpflicht mitgewirkt habe an der Herstellung einer Waffe, die meine Heimat sichern und schützen sollte?“

Unser Gespräch hatte schon zuviel Zeit in Anspruch genommen. Mit einigen kurzen Grußworten entließ mich Professor Lawrence.

Aus „Das schwarze Buch“, Verlag Herold, Wien.

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