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Hat Adenauer versagt?

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Die große Krise der deutschen und init ihr der gesamten westlichen Außenpolitik droht sich zu einer Krise der deutschen Innenpolitik auszuweiten. Natürlich ist die Warnung

Adenauers an die Adresse Kennedys, I1 die Deutschen könnten aus Enttäu- į schung über die Unzuverlässigkeit ihrer k Bundesgenossen zunächst Neutralisten E werden und dann ihr Heil vielleicht z bei der Sowjetunion suchen (das zweite a ist nicht expressis verbis gesagt, klingt aber durch), zu einem guten Teil d Zweckpessimismus. Amerika soll ge- d schreckt, der deutschen Wählerschaft s soll gezeigt werden, daß Adenauer keineswegs der „Kanzler der Alliier- y ten“ ist, wie ihn Schuhmacher einst , nannte, sondern mit ihnen noch härter zu sprechen versteht als ge- .. wisse sozialdemokratische Hurra- p trompeter, die in den letzten Wochen so große Lust zeigten, zwar keines- wegs selbst „gen Ostland zu reiten“, wohl aber die amerikanischen Panzer .j zu solch einer Exkursion zu ermun- p tern. Aber auf weitere Sicht hat der deutsche Bundeskanzer zweifellos recht. Was sich in den Tagen nach . dem 13. August in der öffentlichen Meinung der Bundesrepublik abzu- zeichnen begann, war mehr als ein jj Stimmungsumschwung, der vermutlich der SPD im letzten Augenblik den lange ersehnten Wahlerfolg bringen wird (wenn auch nicht die Mehrheit, so doch starken Zuwachs an Stimmen und Mandaten), sondern es kann unter Umständen ein entscheidender Bruch mit der europäisch-westlich, realpolitisch orientierten Haltung der zwölf Adenauer-Jahre werden.

Die Krise hat Jange Wurzeln

Wer trägt die Schuld daran? Der ‘ Brain-Trust Kennedys, der Brandt die . Bälle zugespielt hat, ohne sich der , Folgen für die amerikanische Politik bewußt zu sein? Chruschtschow, der ‘ die Berlinkrise zeitgerecht und pünkt- " lieh wie eine Wostok-Rakete ent- zündete? Die SPD, die sich ohne viel f Überlegen die Situation zunutzege- macht hat und plötzlich den starken ‘ Mann spielt? Oder Adenauer und die CDU selbst, die sich überrumpeln ließen und um einige Stunden zu spät auf die neue Lage reagierten? Es gibt noch eine Antwort, die im Augen- blick niemand auszusprechen wagt. ‘ Was jetzt geschieht, bereitet sich seit ‘ langem vor. Es ist seit spätestens , Oktober 1958 niemandem mehr verborgen geblieben, aber niemand hat es 1 sehen, niemand hat sich damit ab- finden, niemand hat der Gefahr recht- ] zeitig begegnen wollen. Das deutsche , Volk hat Konrad Adenauer dreimal , die Führung der Bundesrepublik an- 1 vertraut, es hat dreimal der nüch- ! ternen Realpolitik den Vorzug vor Experimenten und romantischen Phantasien gegeben, aber es hat, wie sich jetzt zeigt, diese Entscheidung nicht zu Ende gedacht, es hat offensichtlich gar nicht den Realpolitiker Adenauer wählen wollen, sondern den

Mann, dem seine Gegner vorwarfen, daß er eine Politik der Stärke betreibe, und es ist jetzt enttäuscht, daß der „Alte“ wirklich eine nüchterne Politik treibt, daß er kein Kriegshetzer,

Militarist, Revanchist und neuer Hitler ist. Zwei bis drei Millionen noch schwankende Wähler schicken sich an, Brandt zu wählen, weil er ihnen das zu sein scheint, was zu sein er Adenauer vorgeworfen hat. Und daß dieses Mißverständnis so lange vorherrschen, daß es gerade jetzt platzen konnte, daran dürfte Adenauer nicht ganz unschuldig sein.

Die Opposition wirft ihm vor, er habe versagt, weil es ihm nicht gelungen ist, die „Wiedervereinigung“ zu erzwingen oder auszuhandeln, weil es ihm nicht gelungen ist, die westlichen Bundesgenossen zu einer unbedingten Garantie für die deutschen Grenzen von 1937 zu bewegen und weil es ihm nicht gelingt, Kennedy zur Rettung des Traumes von der „Reichshauptstadt Berlin“ in den Krieg gegen die UdSSR zu schicken. Das ist alles Unsinn und es ist, wenn man daran denkt, daß die Weltgeschichte nach dem 17. September weitergeht, Demagogie. Adenauer hätte sich die Auseinandersetzung mit der über Nacht zur Verfechterin einer höchst gefährlichen und aggresiven Ostpolitik gewordenen SPD auf dieser Ebene ersparen können, wenn er sie nicht vor Monaten schon in außerordentlich harter und sehr unkluger Weise vor den Kopf gestoßen, sondern sie an den kurzen Zügel genommen und mit der Aussicht auf eine große Koalition gebändigt hätte. Da ihr bis zum 12. August nichts geblieben war als die Aussicht, abermals vier Jahre in steriler Opposition zu verbringen, nützte sie die Chance, die ihr der 13. August bescherte, bedenkenlos aus. Die FDP aber, der Adenauer mit seiner Absage an die SPD den Schlüssel für die Regierungsbildung in die Hand gedrückt hat, weiß ihm wenig Dank dafür. Sie nützt die Lage ebenfalls und versucht schon jetzt, zwei Wochen vor der Wahlentscheidung, der CDU/CSU vorzuschreiben, wen sie zum Kanzler machen und welche außenpolitische Linie sie verfolgen müsse, nämlich die Linie des (obendrein völlig illusionären) „gesamtdeutschen“ Neutralismus mit Eugen Gerstenmaier als Bundeskanzler.

Die CDU ließ sich überrumpeln

Chruschtschow hat kein Hehl daraus gemacht, daß er spätestens im Herbst 1961 die deutsche Frage „lösen" will. Ein Kind konnte sich an den Fingern einer Hand abzählen, daß er noch vor der Bundeskanzlerwahl Schritte unternehmen werde, die sich auf die deutsche Innenpolitik auswirken müßten. Es war mehr als naiv, wenn man im Westen annahm, der Gebieter des Kreml werde sich von den Westmächten den Terminplan diktieren lassen. Was sind das doch 1 für demokratische Greenhorns, die sich einbildeten, Chruschtschow werde takt voll warten, bis die Deutschen ihrer Bundestag gewählt habenl „Irgendwi sind immer Wahlen“, hat er schon vo Monaten verächtlich gesagt, darun könne er sich nicht kümmern. Ums erstaunlicher, daß sich die CDU über rumpeln ließ. Sie mußte auch, naci allen!, was bereits vorgefallen war damit rechnen, daß Großbritannien au gar keinen Fall kämpfen werde — wi es MacMillan jetzt in der denkba klarsten Weise ausgesprochen ha („Es wird keinen Krieg um Berlin ge ben, weil niemand für Berlin kämpfei will“) —, sie wußte, daß Frankreich di Hände gebunden hat und daß Kennedy Brain-Trust nicht für Zurückdämmunj des Kommunismus, sondern ‘ür „Ein dämmung“ ist, also für die De-facto Anerkennung der DDR. Man dürft also dem deutschen Volk nicht vor spiegeln, daß Ulbricht einen Ver zweiflungskampf führe und Chru schtschow sich an der Mauer der west liehen Einigkeit den Kopf einrennei werde, sondern hätte der Nation sagei müssen, daß die Wiedervereinigun; heute und vermutlich für die nächstei zehn oder zwanzig Jahre kein real politisches Ziel mehr ist.

Adenauer hätte noch etwas sagei können und sagen müssen. Er hätt endlich aussprechen müssen, was ein sichtige Leute in allen politische: Lagern der Bundesrepublik und selbst verständlich erst recht des Ausland seit Jahren wissen und was sie i: privatem Kreis auch immer wieder aus gesprochen haben: Die Wiederver einigungsparole war von allem An fang falsch: Nicht um die Wiederver einigung, sondern um die Befreiun Ostdeutschlands hätte man kämpfe müssen. Ob sie zu erreichen gewese wäre, kann heute natürlich nieman sagen. Für ein souveränes, unabhän giges und neutrales Ostdeutschland - im Sinne von Sebastian Haffner

Pri iiß nr\lan “ imrl nark A om Mitcfp des neutralen Österreich — hätten die i Westmächte aber ehrlich und mit voller Kraft eintreten und die Sowjets i hätten dagegen kein glaubhaftes Ar- 1 gument Vorbringen können. Für die 1 Wiedervereinigung, also für die Wiederherstellung eines deutschen Siebzigmillionenreiches hat sich im Westen niemand erwärmen können, 1 geschweige denn mit allen Konsequenzen einsetzen wollen. Seit 1958, also seit Chruschtschow die Karte, die bis dahin noch in den Händen der Westmächte war, ausspielte und einen neuen Status für Berlin forderte, wäre es an der Zeit gewesen, auszusprechen, was ist. Hat Adenauer im Ernst geglaubt, den peinlichen Augenblick bis in die vierte Bundestagsperiode verschieben zu können? Auch in diesem Punkt hätte er übrigens der SPD gegenüber eine gute Position gehabt. Er hätte sagen müssen: Nach der Katastrophe von 1945 kann es nicht die geschichtliche Aufgabe des deutschen Volkes sein, das Bismarck- Reich wiederherzustellen; eine große Flurbereinigung in Mitteleuropa ist nötig; etwas völlig Neues muß geschaffen werden. Er hätte sagen können: Das nationalliberale, kleindeutsch-großpreußische, das Bebel- Bismarck-Stresemann-Reich der SPD

ist von vorgestern; die Außenpolitik der SPD ist die der Paulskirche; sie ist nicht nur restaurativ, sie ist reaktionär. Nicht der gesamtdeutsche Nationalstaat, sondern die Befreiung Zwischeneuropas von der sowjetischen Vorherrschaft und die Föderation der neutralen Staaten Mitteleuropas muß unser Ziel sein.

Und ebenso deutlich wäre auszusprechen gewesen, daß Berlin nicht die „Reichshauptstadt" des neuen Deutschlands sein kann, sondern daß es eine Zukunft nur noch hat als Hauptstadt eines unabhängigen und neutralen Ostdeutschland oder als UN- Stadt. Aber noch heute wagt das kein verantwortlicher Politiker in Deutschland auszusprechen. Noch immer redet man sich ein, daß der mit drei Dutzend Spritzen täglich mühsam am Leben erhaltene Patient morgen zu den Olympischen Spielen antreten werde. Noch immer spricht niemand öffentlich aus, was privat jeder sagt: daß der Rest von Bewegungsfreiheit, den der Westen in Mitteleuropa noch hat, verloren ist, wenn man sich an die Erhaltung des Status quo in Berlin klammert, wenn man sich also weigert, dem Kidnapper das Kind aus den Fängen zu reißen.

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