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Heer-Zitate als Glückssache

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Noch einmal zurückzukommen ist auf eine Friedrich-Heer-Biographie (Anmerkung der Redaktion: siehe Furche 48/1995), die sich eine intellektuelle nennt, weil sie letztlich keine Biographie sein will. Zu berichten ist - bei aller notwendigen Schärfe der Kritik mit einem tiefen, echten Bedauern über eine versäumte Gelegenheit - von einer Arbeit, deren Nachlässigkeit (und inhaltliche Einseitigkeit) das Ergebnis der mit Ausdauer und Geschick geleisteten Recherche-Arbeit beeinträchtigt. Von einem Text, der, offenbar durch hastige Kürzungen und Umarbeitungen einer bereits in ziemlicher Hektik zusammengefügten Dissertation entstanden, ohne Überprüfung als Buch publiziert worden ist. Hier, in der furche, „seiner" Zeitung, für die er nicht weniger als 374 Aufsätze und mehr als 600 Buch- und Theaterrezensionen verfaßte, muß man für Friedrich Heer eintreten, wenn es notwendig erscheint.

Zunächst einige nüchterne Feststellungen über die eigentümliche Komposition der „intellektuellen Biographie". Das Buch umfaßt 532 reine Textseiten, auf denen sich nicht weniger als rund 1.230 Zitate unterschiedlicher Länge (manche mehr als eine Druckseite), überwiegend aus Arbeiten von Friedrich Heer, drängen. Diese Zitate geben in den wenigsten Fällen geschlossene Textblöcke wieder, sondern sind durch mehr als 2.400 (gekennzeichnete) Auslassungen zerhackt und zerrissen, die von wenigen Wörtern bis zu vielen Seiten reichen, ja, in einigen Fällen umfaßt ein Zitat Textcollagen aus Büchern, die Jahrzehnte auseinander liegen. Bei der Beurteilung einer solchen Biographie, die schon sehr stark einer „kommentierten Anthologie" gleicht, hat naturgemäß die Analyse der sie dominierenden, ja konstituierenden Bestandteile, also der Zitate und der Zitierweise, Vorrang.

Daher kann eine solche methodische Kritik auch nicht als Beckmesserei, die dem Inhalt des Buches nicht gerecht werde, abgetan werden. Es ist - für jeden unbefangenen Leser auf den ersten Blick sichtbar - ohne die Zitate nichts, sein Inhalt sind im wesentlichen die Zitate. Erweisen sich also die Zitierungen als unzuverlässig, betrifft die Kritik das Buch als Ganzes.

Die Schlampigkeiten in den NichtZitat-Texten beginnen leider schon auf der ersten Seite des Inhaltsverzeichnisses und enden erst mit dem Personenregister: Kurz (statt Kurt) Skalnik. Wilhelm Cantine (statt Dan-tine). 95 Personen ohne Vornamen, darunter so leicht eruierbare wie Bakunin oder Breuer. Zu Karl Barth wird auf die nicht existierende Seite 4 verwiesen. Eine flüchtige Durchsicht erbrachte rund 150 sinnstörende, absurde oder schlicht aus mangelnder Sprachbeherrschung herrührende Fehler. Und manchmal hat sich die Autorin offenbar überhaupt nichts gedacht, etwa bei diesem Satz: „Das Gespräch der Feinde' praktizierte er oft auch gegenüber Menschen, die ihm gesinnungsmäßig alles andere als nahe standen und die ihn zum Teil auch immer wieder angriffen" (Seite 103). Hätte Heer etwa mit seinen Freunden das Gespräch der Feinde führen sollen?

Problematischer, weil sie zu entstellten und mißverständlichen Wiedergaben vor allem von Briefen Heers führt, ist die Lässigkeit der Autorin bei der Verwendung und beim Durchhalten der indirekten Rede. Fehlerhafte oder irreführende indirekte Wiedergaben in größerem Maßstab durch unmotiviertes Hin und Her zwischen direkter und indirekter Rede finden sich auf mindestens 40 Seiten des Buches.

Wendet man sich dessen eigentlicher Substanz zu, also den Zitaten, und vergleicht sie mit den Originaltexten, stößt man auf unglaubliche Fehlerquoten:

Die Zitate weisen rund 260 sprachliche und inhaltliche Veränderungen auf (wobei fehlende oder veränderte Satzzeichen nicht berücksichtigt sind). Ein simpler Druckfehler, welcher der Autorkorrektur nicht hätte entgehen dürfen, macht aus Heers schönem Satz „Ich bin ein Hase, der aus lauter Angst immer wieder nach vorne flieht" auf Seite 28: „Ich bin ein Hase, der aus lauter Angst immer wieder nach vorne sieht". Und so weiter.

Die Zitate enthalten rund 250 nicht gekennzeichnete Auslassungen, dadurch entsteht der Eindruck geschlossener Texte, wo der Vergleich mit dem Original Lücken von einigen Worten bis mehreren Seiten aufzeigt (oder mitten im Text ein Satzende vorgetäuscht wird). In solchen Fällen ist die Entstellung, ja Verfälschung evident. Extreme Beispiele sind das Zitat 88 des sechsten Kapitels, wo zwischen zwei Sätzen, jeweils ohne Auslassungszeichen, einmal 40 Seiten fehlen und einmal 32 Jahre liegen, und das Zitat 55 aus dem zweiten Kapitel, wo—ohne Kennzeichnung - zwischen zwei Sätzen 112 Seiten fehlen.

Beispielhaft für die daraus zwangsweise resultierenden Sinnverfälschungen ist das Zitat 213 des zweiten Kapitels, wo die Autorin Friedrich Heer über Ernst Bloch und den Jesuiten Erich Przywara schreiben läßt: „Nicht zufällig stützen sich beide auf weiten Strecken auf die gemeinsame große Ahnenreihe weit rechts -sie läßt also Heer den „linken" Ernst Bloch als Erben einer rechten Ahnenreihe denunzieren. Im Original steht aber nach „Ahnenreihe" ein langer Text von mehreren Sätzen, darunter: „Nicht zufällig stützen sich beide auf weiten Strecken auf die große gemeinsame Ahnenreihe, die von den vorsokratischen Denkern über die deutsche Mystik und deutsche Naturphilosophie zum neunzehnten Jahrhundert führt...") und deren letzter lautet: „Przywara steht, darüber läßt er keinen Zweifel, politisch weit rechts, - ..."

Auf der anderen Seite führen un-gekennzeichnete Auslassungen zu so absurden Sätzen, daß Friedrich Heer, dem sie der Leser zuschreiben muß, geradezu als Wirrkopf erscheint, wie im „Zitat" 370 des dritten Kapitels: „Der Mensch, der sein Erinnerungsvermögen abtötet, verdrängt, wird zum Mörder und zum Selbstmörder Judentum: es ist geprägt..." Im Original folgt auf „Selbstmörder" ein Beistrich und eine sinnvolle Fortsetzung des Satzes; die Passage „Judentum: es ist geprägt..." folgt in einem ebenfalls sinnvollen Zusammenhang zweieinhalb Seiten später.

Rund 95 Zitate erwiesen sich nach den Quellenangaben der Autorin als überhaupt nicht verifizierbar. Für das Zitat 58 des ersten Kapitels wird nur eine Quelle („Profil" vom 21.4.1981) angegeben. Tatsächlich stellt es einen aus drei Quellen (Profil 1981, Tonbandinterview 1973 und Sammelband-Beitrag 1981) zu einem Zitat ge -klitterten Text dar. Vom fast eine Druckseite langen Zitat 49 aus demselben Kapitel sind nach der einzigen gebotenen Quellenangabe („FURCHE, 25.12.1947") nur zwei Drittel zu verifizieren. Der Best entstammt einer kaum jemandem bekannten ORF-Sendung (Kurzwelle!) vom 20.3.1978!

Was über die durch Anordnung und Kommentierung der Zitate vermittelte „Absicht" des Buches zu sagen wäre, kann hier - zur Sensibilisierung des Lesers - nur angedeutet werden. Die Autorin geht mit Werken und Werkteilen kaum weniger willkürlich um als mit den Zitaten. Das Gesamtwerk wird in beliebig manipulierbare Einzelteile zerlegt, diese werden dann in einer einseitigen Weise zu einem verzerrten Heer-Bild kombiniert. Dies wird durch drei Grundsatzentscheidungen ermöglicht. Erstens: Das Werk in^Sektoren, in „Tortenstücke" (Judentum, Christentum, Österreich ...) zu zerschneiden, somit alle „horizontalen" Verbindungen zu zerreißen und jeweils mit einem schmalen und meist negativ beurteilten „Frühwerk" und einem „breiten", eher willkürlich gewählten „Hauptwerk" (das „Spätwerk" oft vernachlässigend oder mißverstehend) zu operieren. Zweitens: Alles Biographische im engeren Sinne auszuklammern und damit alle Fäden zwischen Leben und Werk zu zerreißen. Drittens: Die Beurteilung der Werke und Werkteile nach nirgends klar ausgesprochenen, nie genau definierten, nach Bedarf unterschiedlich benannten, angeblichen „primären Intentionen" Heers vorzunehmen. Auf diese Weise konnte ein an den geistigen Interessen der Autorin orientiertes, extrem subjektives Werk geschrieben werden, das sich von Heers „selbstkritischer Subjektivität" leider durch fehlende Selbstkritik der Autorin unterscheidet.

Auf Seite 432 bespricht die Autorin nach dem 1949 erschienenen Werk „Aufgang Europas" die 1952 erschienene „Tragödie des Heiligen Reiches", beschreibt wortreich und lobend („meisterhaft") den Fortschritt in Heers Auffassung und Darstellung und belegt ihn glaubwürdig durch neun Zitate. Leider hat sie dabei -schlicht auf die Erscheinungsjahre bauend - übersehen, daß das später erschienene Werk in seinem Kern, den Kapiteln III und IV, um mehr als ein Jahrzehnt älter ist als das vorangegangene. Es ist ihr entgangen, daß Heer in diesen Kapiteln III und IV der „Tragödie des Heiligen Reiches" fast zur Gänze die Veröffentlichung seiner Anfang 1938 verfaßten Dissertation nachholte, daß also der herausanalysierte Fortschritt im wesentlichen nicht von 1949 nach 1952, sondern von 1949 nach 1938 geht. Die neun Zitate stehen nämlich alle in der Dissertation! Die Autorin aber glaubt darin eine Tendenz zu erkennen, „die einer Ilebräisierung des Christentums, für die sich Heer später aussprechen wird, nahekommt."

Die Schlußfolgerung kann nur in der Bitte an den Leser bestehen, dann und wann Friedrich Heer im Original zu lesen. Und in der Hoffnung, daß es irgendwann doch zu einer Neuauflage kommt, und daß diese Gelegenheit zu einer gründlichen Ausmerzung der Fehler in den Zitaten und, wenn möglich, auch zu einer Redigierung der Zwischentexte genutzt wird. Das Thema Friedrich Heer und dessen Wichtigkeit für Österreich würde den Aufwand, die Heidenarbeit für die Autorin und auch den Aufwand für den Verlag, rechtfertigen.

Der Autor ist

Historiker, Direktor der Bibliothek des Österreichischen Staatsarchivs und Autor von „Friedrich Heer ■ Eine Bibliographie".

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