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Kultur des Gesprächs

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Wir sind, als einzelne und in der Gesamtheit, an äußeren Gütern ärmer geworden, doch braucht das nicht allen ein Nachteil zu sein. Es wurde in der Geistesgeschichte aller Zeiten und Völker genugsam berichtet, daß Verarmung nach außen hin oft auch manche Bereicherung nach innen mit sich bringen konnte, so unbequem sie sich zu Anfang auch anfühlen mochte. Völker in äußerer Not greifen gern, wir wissen es, zur Neuordnung ihrer inneren Angelegenheiten, so wie ja der Geist seit jeher kein Endergebnis des Überflusses, sondern meist einer durch Bescheidung hervorgerufenen Selbstbesinnung ist. In diesem Pendelschlag zwischen äußerem Behagen und innerem Aufstieg offenbart sich wohl jeder menschliche Fortschritt überhaupt. In den Zeiten solcher Umkehr werden oft auch vergessene oder vernachlässigte Werte wieder ausgegraben, und so mag in folgendem auch ein Angebot gemacht werden an alle, die ernsten Willens sind, einer Kunst aufs neue Gehör zu schenken, die einst in hoher Blüte stand und mit Unrecht in unserer bedrängten und verwüsteten Zeit vernachlässigt wird, der Kultur des Gespräches.

Es ist damit nicht etwa die Pflege und Förderung eines billigen Salongeschwätzes oder einer sogenannten gemütlichen Bierunterhaltung gemeint. Es geht um anderes, in seinen Auswirkungen ungleich Bedeutsameres, um einen Weg zur Erreichung höherer menschlicher Vollwertigkeit überhaupt.

Es gehört gewiß zur größeren Tragik der Menschheit, immer wieder um neue, farbig schillernde Dinge gedanklichen oder greifbaren Inhalts bestrebt zu sein, die sie nicht besitzt, wobei sie viele der edelsten Werte nicht zu erkennen oder zu schätzen vermag, die längst ihr eigen sind. So sind wir zum Beispiel von zahllosen Wundem der Schöpfung umgeben, vom Aufgang der Sonne bis zum letzten Vogellied, Zauberdingen des Daseins, die allein genügen könnten, die Sehnsucht eines ganzen Lebens zu erfüllen, und doch gehen wir im allgemeinen an all diesen „Selbstverständlichkeiten” wie blind und taub vorbei und streben irdischen Besitztümern nach, von deren Fraglichkeit uns jeder Augenblick tieferen Nachdenkens leicht überzeugen könnte.

Und so versäumen wir unter anderem auch, was uns im Zauber des Wortes geschenkt ist und in seinem Gebrauch zum Zweck der Verständigung, im Gespräch.

Vielleicht weiß nur der Arbeiter im Worte, der Schriftsteller, ganz zu erkennen, wie geheimnisvoll und vielgestaltig oft ein Begriff in der Schale des Wortes ruht, wie erstaunlich reich seine Verwendungsmöglichkeiten, wie überraschend seine Wirkungsmöglichkeiten zu sein vermögen. Und andererseits auch sein Versagen. Das rührende Bekenntnis Rainer Maria Rilkes, die Worte, die die Leute sprächen, „brächten ihm alle die Dinge um”, es kennzeichnet nicht nur des Dichters einzigartige persönliche Hellhörigkeit in den Bezirken der Seele, es enthält auch eine große allgemeine Wahrheit.. Wir tauschen Worte aus, um uns zu verständigen, sie decken sich aber nicht immer mit dem, -was wir eigentlich meinen, worin sich auch hier die Unzulänglichkeit alles Menschlichen genugsam erweist.

Die meisten von uns, besonders jene, welche gerne und viel sprechen, würden nicht selten gelinde erschrecken, Im Falle ihnen der Niederschlag ihres Gespräches, sein wahrer stofflicher Gehalt, in letzter Deutlichkeit vor Augen stände. Sie würden besorgt erkennen, daß sie alles nur mit halbem Bewußtsein sagten, indem auf dem schnellen Wege des Gedankens ein Wort das andere nur allzu- rasch gebar, viel schneller, als daß es hätte gründlich überlegt werden können. Und sollte doch am Ende volle Erkenntnis des Gesprochenen aufdämmern, so ist es längst zu spät, es wieder gutzumachen, denn nichts ist schwerer wieder einzuholen als ein gesprochenes Wort.

Von den beiden Werkzeugen zur menschlichen Verständigung, dem Sender Zunge und dem Empfänger Ohr, ist letzteres offenbar das empfindlichere. Es entspricht der menschlichen Ich-Einstellung, daß man feinfühliger, kritischer im Hören und un-. gleich unbesorgter im Sprechen ist.

Und hier beginnt nun einzusetzen, was man Kultur des Gespräches nennen könnte, den .Drang nach Betätigung der Zunge der Rücksicht OjUf das Ohr des Hörers unterzuordnen. Es gälte vor allem, sich dessen zu besinnen, daß ein Gespräch nicht geführt wird, um sich auszusprechen, sondern um gehört zu werden. Entscheidend ist nicht allein, was man gesagt hat, sondern wie etwas aufgenommen wird.

Zwei Bedingungen sind die Paten jedes fruchtbaren Gespräches: die Wohlbesinnung und das Zuhörenkönnen. Das zu Sprechende vorher eindringlich zu überlegen, das sollte bereits in den untersten Volksschulklassen wie eine heilsame Turnübung gelehrt werden, nicht minder aber auch die hohe Kunst des Schweigens, indessen der andere spricht. Im Zuhören, es klingt ein wenig verwunderlich, bekundet sich am deutlichsten der Meister des Gespräches, und den letzten geheimen Endsieg in jeder Debatte trägt merkwürdigerweise nicht jener davon, der am lautesten gesprochen, sondern jener, der am besten geschwiegen hat.

Wodurch wird aller persönliche Verkehr von Mensch zu Mensch geregelt, wenn nicht in der Aussprache durch das Wort? Es liegt ihr immer, insofern sie nicht als Geschwätz oder als „Plauderei”, wie es so lieblich heißt, von Anfang an zwecklos ist, der tiefere Sinn zugrunde, den Zuhörer zu irgendeinem Zweck zu überzeugen, sei es um der Teilnahme, sei es um einer Mitteilung, sei es um einer Abmachung willen. Im letzten ist Verständigung das innerste Uhrwerk jedes menschlichen Gesamtwerks, und da sollte es gleichgültig sein, welche Form wir ihr geben? Immer trägt auch im Gesprach der Überlegenere den Sieg davon, und da sollte es sich nicht lohnen, solch wesentliche Kräfte sich anzueignen?

Man fragt sich mit Verwunderung, wie es möglich ist, Menschen aufeinander loszulassen, ohne sie auf dem Wege der Schulung in die Kultur des Gespräches eingeführt zu haben. Beherrschung und Zucht im mündlichen Verkehr wären aber auch eine fortdauernd wirkende Schulung zur inneren Disziplin des Lebens überhaupt. Wir besitzen wohl Schulen für Rhetorik, aber nicht für Dialektik. Sind wir in der mündlichen Verständigung von Mensch zu Mensch wirklich soweit gediehen, daß wir solchen Unterrichtes nicht bedürfen?

Es steht wohl im Gegenteil so damit, daß die einfachsten Regeln einer harmonischen und nutzbaren mündlichen Verständigung fast ununterbrochen außer acht gelassen werden. Jeder ist darin sich selbst und einer Art wilder Natürlichkeit überlassen, die nicht selten ganz erschreckende Formen annimmt. Das brüske Ansichreißen des Wortes oder das sich gegenseitig Inswortfallen, besonders aber das gegenseitige Überschreien ist leider überall zu finden. Wie selten gelingt es, ein Thema, das in einer größeren Gesellschaft besprochen wird, ungefährdet von allen sprachlichen Wüstheiten und Verwirrungen an das Ufer einer reinlichen Erledigung im Geiste zu bringen! Es entsinnt sich jeder seiner eigenen Erfahrungen. Das Nachgefühl nach einer solchen Auseinandersetzung ist dann für jeden ein sehr unerquickliches, eine Art geistiger Kater, ein Zusammenbruch jeder harmonischen Verständigung, die doch so unendlich wichtig für das Gedeihen von Leib und Seele ist.

Das Schlimmste scheint wohl dieses, daß den meisten gar nicht zu Bewußtsein kommt, daß es eine Kunst des Gespräches überhaupt gibt. Sie tragen ein edles Instrument in sich, doch wissen sie es gar nicht, daß man darauf auch spielen kann. Und so geht eine unendliche Fülle geistiger Freude, dauernder Anregung und innerlichen Aufschwungs in höhere Gebiete verloren, nur weil das Selbstverständlichste nicht geschicht: daß man ausnützt, was man besitzt. Sind solche Fragen zeitgemäß in unseren Tagen? Sie sind es gewiß, denn sie würden, im Falle man sich ihrer Pflege widmete, fortschreitend Segen bringen, vom privaten Verkehr bis weit in alle öffentlichen und staatlichen Verhältnisse hinaus. Sie wären vor allem der einfachste Weg zu wahrhafter Bildung und damit auch zur Verständigung. Wir erklären Bildung bekanntlich am besten damit, daß sie nicht in einer Anhäufung von fraglichem Wissen, sondern vor allem in der Kunst liegt, im Verkehr mit anderen Menschen zur Harmonie, zum seelischen Einklang zu gelangen, selbst wenn es um sehr verschiedene Meinungen geht. Das Mittel dazu ist das Gespräch. Wir wissen, daß auch für scheinbar unüberbrückbare Gegensätze immer noch ein schmaler Steg der Verständigung gefunden werden kann, sobald ein guter Wille dazu einsetzt. Dieser Wille liegt nicht im geharnischten Verstände, er liegt im Gefühl, in einer Art Harmonie der Güte, die ihre Kräfte mehr aus der kosmischen Einsicht in den letzten Ausgleich aller Dinge, als aus der Streitbarkeit der Tagesmeinungen bezieht. Sie ist eine Art musikalisch-rhythmischer Angelegenheit, sie steht irgendwie im Zusammenhang mit dem Schönheitsmaß der Form, die die Wirkung des Inhalts viel häufiger mitbestimmt, als die Unbedingten meinen.

Sollte es nicht eine dankbare Aufgabe sein, eine junge Generation dazu zu erziehen, in ihrer Rede von Mensch zu Mensch sich beherrschter Formen zu bedienen? Der wesentlichste Weg dazu, die Achtung vor der Meinung des andern und ‘die ruhige Aufnahme seiner Rede, sind erzieherische Grundlagen von größer Bedeutung. Es ist bei einem harmonischen Gespräch, das auch schärfste Gegensätze zum Inhalt haben darf, als würde auf dem Wege (der erlösten Form eine überirdische Macht herbeigerufen, um das Irdische zu ordnen.

Man lehre die Menschen besser sprechen, und man lehrt sie damit auch, sich besser zu verstehen, vielleicht sogar — sich zu lieben.

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