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Laßt uns singen

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Zu den mir liebsten Erinnerungen gehören die Wanderungen, die ich als junger Offizier mit meiner Kompagnie auf das Karstplateau von Basovizza unternahm, wo sich damals die Sdiießstätte der. Garnison Triest befand. Wanderungen? Hat es nicht fachgemäß „Märsche” zu heißen? Gewiß, als Offizier marschierte ich, als Dichter aber unternahm ich dabei eine Wanderung.

Wandern heißt nicht nur ein Bein vors andere setzen, es heißt, die Augen offen behalten und Gottes immer noch schöne Welt in Strömen in sich einziehen lassen, und das tat ich damals im reichlichsten Maße. Die Straße zog sich in sanften Kehren die Höhe hinauf und immer strahlender entbreitete sich die schöne, südliche Stadt und immer erhabener das gewaltige tiefblaue Meer, in dessen Diensten das regsame Triest damals, vor einem halben Jahrhundert, noch als stolzer Freihafen stand. Trieb ich mich unten an der Riva oder in den lebhaften Gassen herum, war ich nur ein Stück des Ganzen; hier von der Höhe aus aber wurde mir alles zum geschlossenen Bilde und zu einem Stück von mir.

Auf diesen, sagen wir also dienstlichen Wanderungen gab es aber nicht nur Freuden für das Auge, es ging auch um Erlebnisse für das Ohr, und von diesen will ich hier berichten.

Sobald wir nämlich dem Weichbild der Stadt entronnen waren, wandte ich mich zu meinen einhundertzwanzig Leuten zurück und rief ihnen zu: „Singen erlaubt!”

Die wackeren Burschen ließen sich das nicht zweimal sagen. Gleich setzte ein durchaus erträglicher Chorgesang ein, irgendein Marsch- oder Trutz- oder Liebeslied, zuweilen ein wenig gewürzt und nicht immer für feinere Ohren bestimmt, aber schließlich waren wir ja Soldaten.

Es wurden aber auch die alten, edlen Lieder des Volkes gesungen, von denen man nie recht weiß, wann und wo sie entstanden sind, und die mich immer wie der Inbegriff und der innerste Ausdruck des Geistes eines Volkes selbst anmuteten. Und hier, so schien es mir, wurden meine soldatischen Sänger plötzlich zu kleinen Meistern, eine große Sicherheit war wie etwas Selbstverständliches über sie gekommen, sie brauchten ja nur sich selbst zu singen.

Dies alles aber, so erfreulich es midi be- ‘ rührte, war noch nicht das Eigentliche. Das Besondere, das mir heute noch völlig Unvergeßliche war: es sangen ja abwechselnd drei Nationen!

Weil wir nämlich noch beisammen waren.

Meine Kompagnie bestand zu je einem Drittel aus deutschsprachigen Österreichern, aus Italienern und aus Slowenen. Und da die Leute nun abwechselnd sangen, immer ein Völkergrüppdien artig nach dem anderen, jedes auf seine Art bemüht, sein Bestes zu leisten, ergab sich ein Zusammenhang dreier verschiedener Wesen, der mir, ich kann es nicht anders sagen, zu einem Menschheitsklange wurde, denn es gehören immer mehrere dazu, um eine Menschheit darzustellen.

Und im Verein mit der wundersamen Landschaft, die mir weit und strahlend zu Füßen lag, ergab sich hieraus eine seltsam befreite Empfindung in meiner jungen Seele, deren Nachklang sich bis heute nicht verloren hat.

Es war zum erstenmal, daß mich die heilsame Erkenntnis überkam, daß es schön sef, ein Ganzes zu sein, zugleich aber auch ein Teil von einem noch höheren Ganzen. Das eine ließ ich im Bewußtsein, das andere im Unterbewußtsein, beides zugleich aber in der Seele erfassen, und etwas Neues, Hohes, Zukunftfreudiges bemächtigte sich meiner ahnungsvoll.

Heute würden wir es einen Hauch von Europa nennen. Damals war es eben das alte Österreich, in den bekanntlich zwölf Nationen verschiedentlich und doch auch wieder einverständlich sangen. Ich konnte das aber damals nicht erfassen, denn oft muß ein Begriff im Irdischen verlorengehen und sich ins Vergeistigte erheben, bevor er uns völlig verständlich wird.

Denke ich heute an meine jungen singenden Soldaten zurück, wie sie im frohen Marsche, von eigener und fremder Melodie getragen, einträchtig im Takt die Straße nach Basovizza gewannen, bemächtigt sich meiner eine große Wehmut. Zugleich erfüllt midi aber auch eine große Achtung, ja Verehrung vor diesen hundertzwanzig Männern aus dem Volke und aus drei verschiedenen Völkern, die in ihrer Art, gemeinsam ihr Lied zu singen, in aller Unschuld einer höheren Weisheit huldigten und dabei ein Ziel erreichten, das den sogenannten Intellektuellen und politisch Bemühten aller Länder der Welt noch immer trübselig verschlossen bleibt.

Wie haben sie es wohl zuwegegebracht, meine braven Burschen von der dritten Kompagnie, daß sre sich alle untereinander so gut verstanden und sich niemals eine Zwistigkeit ergab, die man ja bei Vertretern von derart verschiedener nationaler Wesensart wohl hätte voraussetzen können?

Man glaube ja nicht, es sei der „Druck von oben”, die „eiserne Fessel der Disziplin”, die Angst vor Bestrafung gewesen, was sie derart friedlich zusammenhielt. Man kann durch Befehle wohl ein gehorsames Schweigen, aber kein fröhliches Lächeln hervorzaubern, besonders aus dem Herzen nicht. Und am allerwenigsten ein fröhliches Lied!

Was also war es, was diese schlichten Bauern, Handwerker und kleinen Geschäftsleute aus. freiem Willen heraus, lediglich ihrem Herzen folgend, zur „Menschheit” werden ließ?

Es war einfach Weisheit, wie sie dem Volke immer eignet, solange es nicht auf politische Irrwege geführt wird.

Indes meine Soldaten gemeinsam sangen und sich die Köstlichkeiten ihrer Lieder wie höfliche Gaben des Herzens hin- und wiederreichten, standen die Vertreter ihrer Völker sich im Parlament in Wien gegenüber, gewiß im guten Bestreben, die Güter ihrer Nation, ihr Glaubens-, Brot- und Schulrecht aufs peinlichste zu wahren, im Auge aber auch bereits den irren Funken des Hasses, der nicht sehend, sondern blind macht. Las ich abends die Berichte aus Wien, konnte ich manches nicht begreifen, da ich selber lieber zur Einfalt neigte, als zur Fügung ins politisch erschrecklich Verworrene. Und ich begab mich in Gedanken zu meinen Leuten, um deren Wohl und Weh es doch eigentlich ging, und forderte sie auf: Laßt uns singen, Leute, laßt uns singen!

So kam es, daß von meinem ganzen militärischen Dienste mir nichts willkommener war als die Märsche nach Basovizza. Und auch meine Leute mußten es bald heraus- bekommen haben, es sei ibr Gesang mir erwünscht und eine heimliche Freude. Sie übten sich gewiß auch in der freien Zeit in ihren Mannschiftsstuben ein, denn es kamen immer wieder neue eigenartige Lieder zum Vorschein, jedes eingehüllt in die Ausdrucksform und erfüllt vom Geiste ihres Volkes. Von allen dreien aber läßt sich sagen: Gerade im Spiegelbild der jeweilig andern Wesen gewann jedwedes noch höhere Bedeutung und einheitlichere Form, so wie ja jeder Gegensatz in seiner Spiegelung das letzte Eigentliche im andern erst hervorhebt.

Und es war wohl so, als wüßten das die singenden Soldaten selbst. In Anerkennung der andern erwuchs ibr eigener Stolz, nun war Verschiedenheit keine Trennung mehr, sie war Verbindung. Nach jedem Liede setzte eine kurze Pause ein, als gälte es, das eben Gehörte mit seelischer Höflichkeit, nein, auch mit menschlich brüderlicher Wärme in sich aufzunehmen.

Sie waren arme, bescheidene Bursdien, diese kleinen Bauern, Handwerker und Geschäftsleute. Ich aber meine, sie waren doch eine durchaus vornehme, in höheren Gefilden der Menschheit schwebende Gesellschaft zugleich. Sie wußten das gar nicht, und es war ihnen auch nicht darum zu tun, es zu wissen. Ich selbst nur ahnte und fühlte es, damals allerdings nicht so deutlich wie heute, da mir nichts dringender scheint als dieses in die Verworrenheit der Welt zu rufen: Laßt uns singen, Leute, laßt uns singen!Friedens und des Heils ihrer gemeinsamen Ruhe willen dieses Europa frei von den alten Baufehlern und -gebrechen wieder erstehen lassen, mit ihm den Weltzusammenhang neu aufbauen mähten, bedürfen zu ihrem Vorhaben neben der tragenden Idee ihres Bauplanes noch des geistig-seelischen Baustoffes, der die Verwirklichung dieser Idee erst ermöglichen kann. Auch dessen war sich Joseph Görres bewußt. Aber auch hier sah er eine Hoffnung. Das Schatzhaus der alten politischen abendländischen Ökumene lag wohl in Trümmern, der Schatz seiner politischen Tugenden war scheinbar dahin. Aber kreiste er nicht, in kleine und kleinste Münze geschlagen, in den kleinen Privattugenden seiner Menschen, die noch immer dieselben, nämlich Menschen waren, Frevler und Demütige, stolze, Irrende und ehrfürchtig Suchende—; so schlecht war keiner, daß er nicht auch seine kleine Tugend bewahrte, und nur des Anrufs, der Pfingst- botschaft aus einem größeren Bereich, die ihn aus seiner Enge hinauszuführen mächtig war, gewärtig blieb, um diese seine kleine persönliche Stärke auf den Altar der Aufrichtung einer neuen europäischen Gemeinsamkeit zu legen.

„Religiöser Glaube …, Mut…; derber, gesunder Hausverstand…, anderwärts unerreichte Ideenkraft, sittlicher Ernst, treuherzige Ehrlichkeit, Schlichtheit der Gesinnung, Verläßlichkeit, unerschütterliche Treue, Natursinn, Gutmütigkeit, tiefer Rechtssinn, Geradheit und Aufrichtigkeit, Gefühl gerechter Billigkeit, Unverdrossenheit, Emsigkeit und Nüchternheit, stille Selbstbeschränkung, Standhaftigkeit” — Wer wollte sagen, sie seien wirklich ganz dahin, oder: das Werk, das die Großen der Welt planen, könnte ihrer gänzlich entraten?

Als geschichtliche Forderung an seine Zeit vermögen die genannten Schriften des Görres nur mehr unseren historischen Sinn zu fesseln. Was uns in unserer Existenz mit ihnen verbindet, ist ein doppeltes: Notzeit und Wende Europas waren ihr Anlaß und das Ringen eines begnadeten nach Gesetz und Sinn der Geschichte, und also nach der Wahrheit in der Geschichte Suchenden hat sie gezeugt. Diese Wahrheit kann nur eine sein; in dem Zeitalter, da man sich auf den Kongressen in Wien, in Aachen, in Karlsbad, in Laibach und Verona um die Neuordnung Europas bemühte, wie in unseren Tagen, da über die neue Ordnung der Welt schon die nächste Stunde entscheiden mag.

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