6755156-1967_43_13.jpg
Digital In Arbeit

Leben erhalten und fördern

Werbung
Werbung
Werbung

DIE LEHRE VON DER EHRFURCHT VOR DEM LEBEN. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. Von Albert Schweitzer. Herausgegeben von H. w. Bahr. Verlag C. H. Beck, München. 160 Selten, Leinen. DM 10.80.

Mag die voranschreitende Menschheit sich auch fortentwickeln und sich dabei von ihrem ursprünglichen Wesen entfernen, sie wird ihre Ansicht darüber, was menschlich groß ist, nicht ändern. Immer gibt sie der Beharrlichkeit diesen Preis. Es ist die Unbeirrbarkeit beim Verfolgen des einmal gesetzten Zieles, was bei allen Großen, bei Politikern und Künstlern, Religionsstiftern und Denkern selbst die oft gleichzeitig vorhandene Vielseitigkeit der Begabung unwesentlich und unbedeutend erscheinen läßt. Darum fällt uns auch bei der Nennung des Namens Albert Schweitzer nicht der Prediger noch der Philosoph noch der Musiker und Orgelvirtuose und auch nicht der berühmte Arzt zuerst ein, sondern nur der große Humanist, der während seines neun Dezennien umfassenden Lebens mit einer an Sturheit grenzenden Unentwegtheit die Menschen zur Ehrfurcht vor dem Leben aufgefordert hat.

Diese Ethik, die in ihrem Titel in der Form eines Imperativs ihren Inhalt mit genügender Klarheit auszudrücken scheint, ist in Wahrheit so problematisch, wir nur irgendeine Philosophie sein kann. Denn diese Ethik anzunehmen, sie zu der eigenen zu machen, fordert mehr von uns als nur Denken, sie fordert Entscheidung und Handeln.

Der Herausgeber beruft sich auf seine freundschaftlichen Beziehungen zu dem großen Manne und schildert einleitend die Geschichte des Buches, die in die drei letzten Lebensjahre Schweitzers hineinreicht. Dessen Wunsch war es, die Grundtexte zu seiner Ethik in einem Buch vereint zu wissen. Und so geschah es denn.

Zehn chronologisch gereihten, von 1919 bis 1954 entstandenen Texten ist ein 1963 geschriebener voran- und ein aus dem Jahre 1931 stammender nachgestellt.

„Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören." Das ist der Inhalt dieser Ethik. In solcher Formulierung hat Schweitzer sie 1919 zum erstenmal in einer Predigt öffentlich dargelegt. In den „Jugenderinnerungen" lesen wir erstaunt von einem Sauilus, den auch dieser flammende Bekenner in sich überwunden hat. Nicht zufällig ist daher auch ein Abschnitt aus der Schrift „Die Mystik des Apostels Paulus" hier zu finden. Schweitzer, der in den großen Philosophien vergeblich die wahrer Menschlichkeit würdige Ethik suchte, fand sie nur bei einem verwirklicht, bei Franz von Assisi. Auch er eine Saulusnatur.

Schweitzers Leben fand 1954 in Oslo seine äußere Krönung, als man ihm den Friedensnobelpreis überreichte. Man muß seine Rede wieder lesen, die er da gehalten hat: Die Gedanken sind hingesetzt wie Blöcke, behauen, aber ohne jede Verzierung, und niemand kann sie wegrücken, er sei denn selbst verrückt. Dieser Stil kennt keine geiststreichelnde Eleganz. Vollkommen entspricht dem Inneren das Äußere. Wie ein tausendmal gehörtes Märchen, das zu hören man niemals müde wird, so liest man, gespannt und erschüttert, wie der naive und zugleich hellwache wissenschaftliche Geist dieses Menschen die menschliche Wirklichkeit gesehen hat, dieses Menschen, der die Welt erobert hat, indem er sich van ihr ab-gewandt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung