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Lenaus „Faust“

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„Faust“ ist so eng mit unserem Goethe-Wissen verknüpft, daß wir, wenn wir uns nicht gerade literaturhistorisch betätigen, von anderen „Fausten“ kaum Kenntnis nehmen. Nikolaus Lenau (1802 bis 1850) brachte freilich die richtige Einstellung zu Papier: „Faust ist zwar von Goethe geschrieben, aber deshalb kein Monopol Goethes, von dem jeder andere ausgeschlossen wäre. Dieser ,Faust ist Gemeingut der Menschheit.“ So entstand dieses Gemeingut der Menschheit auch in einer Lenau- schen Diktion. 1823 erstmals geplant, 1832, vier Jahre nach Goethes Tod, in erster Fassung beendet, 1840 umgearbeitet neu herausgestellt. Der „Faust“ Lenaus spiegelt die Erkenntniskämpfe des Dichters in herrlicher Reimsprache wider. „Lenau, der an sich selbst die zerstörende Wirkung des Zweifels erfahren hatte“, sagte Ilse Archer, „gestaltet in seinem ,Faust- die Tragik des Zweiflers und Wahrheitssuchers, die selbstvernichtende Wirkung des Erkenntnisdranges: der Zweifel ist die bewegende Kraft dieser Dichtung. Der absolute Wissensdurst ist eine gefährliche, verwerfliche Selbstüberschätzung des Menschen, der damit die ihm von Gott gesetzten Schranken zu überschreiten strebt. Der erwachende Wahrheitsdrang hebt die schlichte Gläubigkeit auf und zerstört allmählich den Seelenfrieden.“

Das Berner Kleintheater hat den interessanten Versuch unternommen, Lenaus „Faust“, der wie dessen „Albigenser“, „Don Juan“ und „Sa- vonarola“ eine mehr episch-lyrische als eigentlich dramatische Form aufweist, wieder einmal dem Sprechtheater zu erobern. Der Versuch ist trefflich gelungen. In der Inszenierung von Thomas Nyffeler, die das Sprachliche sieghaft in den Vordergrund stellt und das mimisch-gestische Spiel weise zurückhält, wird vor dem Hintergrund eines gelben Vorhangs agiert: in kurzen Szenen, markant pointiert, unter beispielhafter Pflege des Worts, dessen Schönheiten hier beglückend aufleuchten. Norbert Klassen, dem auch die Neufassung zu danken ist, prägt das Zweifelsschwanken, die Sehnsucht und das Versagen Faustens ausgezeichnet: seinem Gegenspieler Mephisto gibt Christoph Saarn in starker Bändigung wirksame Züge zynischen Spottes. Ein sehr gewinnender Erzähler ist Peter Hasslinger: er spielt auch einige von den Episodenfiguren.

Die Schauspieler sind unmaskiert und unkostümiert: sie agieren im Arbeitsgewand, das hier merkwürdigerweise nicht stört, weil ein bestimmter Abstand von den allgemeinen Gesetzen der Bühne besteht. Der Applaus war sehr stark.

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