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Lolita, bevor es Lolita gab: "Das Mädchen mit dem Bären" von W. Domontowytsch

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Der Roman von W. Domontowytsch liefert ein aufschlussreiches Stimmungsbild von Kiew in den 1920er Jahren.

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Der Roman von W. Domontowytsch liefert ein aufschlussreiches Stimmungsbild von Kiew in den 1920er Jahren.

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Ein Intellektueller in brutalen Zeiten. Unter Stalin war das Überleben in der Sowjetunion für Gebildete als kritische Instanz vielfach Zufällen geschuldet. Jeder war verdächtig, der über einen eigenen Kopf verfügte. Wenn sich deshalb einige duckten und kleinmachten, um nicht aufzufallen, ist das verständlich.

W. Domontowytsch, eigentlich Wiktor Petrow (1894‒1969), ukrainischer Schriftsteller, soll sich als Spion anwerben haben lassen, um im Klima von Schauprozessen und willkürlichen Hinrichtungen seine Haut zu retten. Er war als Wissenschafter wie als Literat gleichermaßen begabt. Dass er mit einem Roman jetzt der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich ist, ist dem Verlag Septime zu verdanken, der dem Übersetzerpaar Ganna Gnedkova und Peter Marius Huemer, die eine flüssig zu lesende Fassung vorlegen, abgenommen hat, dass es sich um ernst zu nehmende Literatur handelt.

Dass der Roman aus dem Jahr 1928 mit politischen Stellungnahmen zurückhaltend bleibt, leuchtet ein. Dabei liefert er ein aufschlussreiches Stimmungsbild von Kiew in den 1920er Jahren. Er ist angesiedelt im Milieu einer wohlhabenden Familie, die einem in prekären Verhältnissen lebenden Lehrer die Chance gibt, den Töchtern Privatunterricht zu erteilen. Das erweist sich als schwierig, weil eine der Jugendlichen sich als ständiger Störfaktor erweist. Sie lässt Respekt vermissen, akzeptiert Autorität nicht – ein pädagogisches Desaster ist zu beobachten.

Was den Roman zu einer außergewöhnlichen Angelegenheit macht, ist der Plot, der stark an Vladimir Nabokovs „Lolita“-Roman erinnert. Nur war Domontowytsch 22 Jahre früher dran. Nein, von einem Plagiat ist Nabokovs Version der Abhängigkeit weit entfernt, die Bearbeitung eines Motivs bringt stets neue Sichtweisen hervor. Der Lehrer und die Minderjährige und wie sich daraus eine unmögliche Beziehung entwickelt, ist skandalträchtig. Es bedarf schon literarischer Qualitäten, um nicht im aufdringlich Plakativen zu landen und den Fall plausibel rüberzubringen.

Domontowytsch kann das, zeichnet die Wandlung eines biederen Mannes nach, dem es vorerst nur darum geht, seinen Lebensstandard zu bessern, der dann zum Besessenen wird und gegen jede Vernunft seiner Passion folgt. Wieder einmal stoßen wir auf einen Namen, der der deutschsprachigen Leserschaft lange verborgen blieb. Wenn wir jetzt Bekanntschaft mit ihm geschlossen haben, sollte es Platz für mehr geben.

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