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Digital In Arbeit

MEINE OPER „OEDIPUS REX“

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Bereits seit Jahren fühlte ich das Bedürfnis, ein Werk größeren Umfangs in Angriff zu nehmen. Ich dachte an eine Oper oder ein Oratorium über einen Text, dessen Handlung allgemein bekannt ist. Ich wollte auf diese Weise die ganze Aufmerksamkeit des Hörers, der ja die Anekdote kennt, auf die Musik konzentrieren, die sogleich Wort und Handlung wird.

Dieser Plan beschäftigte mich sehr. Ich mußte damals nach Venedig fahren, denn die Internationale Gesellschaft für zeitgenössische Musik hatte mich eingeladen, bei ihrem dortigen Fest meine „Sonate“ zu spielen. Ich benutzte die Gelegenheit, um vor meiner Rückkehr nach Nizza eine kleine Autofahrt durch Italien zu machen, die in Genua endete. Dort fand ich durch Zufall in einer Buchhandlung das Werk von Joer-gensen über den heiligen-Franz von Assisi, ein Buch, von dem ich schon viel gehört hatte. Beim Lesen traf ich auf eine Stelle, durch die ich eine alte Absicht von mir aufs neue bekräftigt fand. Man weiß, daß Italienisch die Muttersprache des Heiligen war, aber bei feierlichen Gelegenheiten, beim Gebet etwa, bediente er sich des Französischen (des Provencalischen? — seine Mutter war aus der Provence). Ich war von jeher der Meinung gewesen, daß zu allem, was ans Erhabene rührt, eine besondere Sprache gehört, die nichts mit dem Alltag gemein hat. Daher suchte ich jetzt nach einer Sprache für mein geplantes Werk, und schließlich wählte ich das Lateinische. Es hat den Vorzug, ein Material zu sein, das nicht tot ist, aber versteint, monumental geworden und aller Trivialität entzogen.

Als ich wieder zu Hause war, fuhr ich fort, nach einem Thema für mein neues Werk zu suchen. Ich beschloß, es dem Umkreis der berühmten Mythen des klassischen Griechenlands zu entnehmen. Als Verfasser für das Textbuch schien mir niemand geeigneter als Jean Cocteau, mein langjähriger Freund, der jetzt nicht weit von Nizza wohnte und mit dem ich mich häufig traf. Der Gedanke, mit ihm zusammenzuarbeiten, war mir schon oft gekommen. Wir hatten auch gelegentlich gemeinsame Pläne erwogen, aber aus irgendwelchen Gründen war niemals etwas daraus geworden. Ich hatte damals seine „Antigone“ gesehen, und die Art, wie er den antiken Mythos behandelt und in eine zeitgemäße Form kleidet, hatte mir sehr gefallen. Cocteau ist auch ein ausgezeichneter 'Regisseur, er weiß die Werte zu vertauschen und Kleinigkeiten zu großer Bedeutung zu erheben. Das gilt nicht nur von der Art, wie er das Zusammenspiel der Schauspieler regelt, es erstreckt sich auch auf die Wahl der Dekorationen, der Kostüme, bis herunter zu den kleinsten Einzelheiten. Noch im vergangenen Jahr konnte ich diese Gaben an ihm bewundern während der Aufführung seines Stückes „La Machine infernale“, bei der seine Arbeit durch die schönen Dekorationen von Christian Berard so glücklich unterstützt .wurde.

Zwei Monate lang blieb ich in ständiger Verbindung mit Cocteau. Er hatte viel Gefallen an meinem Plan gefunden und sich sofort an die Arbeit gemacht. Als Thema hatten wir den Mythos vom König Oedipus gewählt, den. gleichen Stoff also, den Sophokles in seiner berühmten Tragödie behandelt. Wir hielten unser Vorhaben streng geheim, denn wir wollten mit diesem Werk Diaghilew eine Ueberraschung bereiten zu seinem zwanzigjährigen Bühnenjubiläum, das im Frühjahr 1927 gefeiert werden sollte.

Zu Beginn des neuen Jahres schickte mir Cocteau den Anfang des endgültigen Textes zum „Oedipus“ in der lateinischen Uebersetzung von Jean Danielou. Seit Monaten hatte ich mit größter Ungeduld auf seine Dichtung gewartet, denn ich wollte so bald wie möglich mit der Arbeit beginnen. Die Hoffnung, die ich auf Cocteau gesetzt hatte, war glänzend in Erfüllung gegangen. Kein anderer Text hätte meinen Wünschen besser entsprechen können.

Während ich mich in das Buch vertiefte, ent-, sann ich mich allmählich wieder der lateinischen Kenntnisse, die ich einst auf dem Gymnasium erworben, aber seitdem leider völlig vernachlässigt hatte. Mit Hilfe des französischen Textes machte ich mich bald darauf mit dem lateinischen Wortlaut vertraut. Was ich erwartet hatte, sah ich bestätigt: die Gestalten der großen Tragödie ebenso wie ihre Schicksale wurden durch die lateinische Sprache wundervoll lebendig. Dank ihr erhielten sie das monumentale Maß und die erhabene Haltung, die dem majestätischen Charakter der antiken Legende entspricht. Welche Freude bereitet es, Musik zu einer Sprache zu schreiben, die seit Jahrhunderten unverändert besteht, die fast rituell wirkt und dadurch allein schon einen tiefen Eindruck hervorruft. Man fühlt sich nicht an Redewendungen gebunden oder an das Wort in -seinem buchstäblichen Sinne. Die strenge Form dieser Sprache hat schon an sich soviel Ausdruckswert, daß es nicht nötig ist, ihn durch die Musik noch zu verstärken. So wird der Text für den Komponisten zu einem rein phonetischen Material. Er kann ihn nach Belieben zerstückeln und sich nur mit den einfachsten Elementen beschäftigen, aus denen er besteht: den Silben. Und haben nicht auch die alten Meister des strengen Stils den Text auf diese Weise behandelt? So hat sich auch die Kirche seit Jahrhunderten der Musik gegenüber verhalten und sie dadurch davor bewahrt, sentimental zu werden und dem Individualismus zü verfallen.

Den restlichen Sommer sowie Herbst und Winter ging ich kaum aus dem Hause, so sehr nahm mich die Arbeit am „Oedipus“ in Anspruch. Je mehr ich mich darein vertiefte, um so ernsthafter wurde für mich das Problem der „Haltung“, die ein musikalisches Werk haben soll. Ich gebrauche hier den Ausdruck „Haltung“ nicht im engen Sinne des Wortes, ich gebe ihm eine viel größere, umfassendere Bedeutung. Ebenso wie mir das Lateinische, dessen man sich im täglichen Leben nicht mehr bedient, eine gewisse „Haltung“ aufzwang, so verlangte auch die musikalische Sprache selbst nach einer hergebrachten Form, die die Musik in strengen Grenzen zu halten vermag und den Komponisten daran hindert, sich Abschweifungen hinzugeben, die oft dem Werke schaden. Indem ich die Form einer Sprache wählte, die, durch' die Zeit bestätigt, sozusagen gebilligt ist, legte ich mir einen freiwilligen Zwang auf. Die Notwendigkeit eines Zwanges, einer freiwillig angenommenen „Haltung“, liegt tief in unserem Wesen begründet; sie erstreckt sich nicht nur auf die Kunst, sondern auf alle bewußten Erscheinungsformen des menschlichen Daseins. Es ist das Verlangen nach einer Ordnung, ohne die nichts entsteht, während alles zerfällt, wenn sie aufgehoben wird. Jede Ordnung jedoch verlangt einen Zwang, aber man täte unrecht, zu glauben, daß dadurch die Freiheit beschränkt wird. Im Gegenteil, die /.Haltung“, der Zwang tragen dazu bei, sie zu entfalten, sie hindern die , Freiheit nur daran, Willkür zu werden. So wird auch der schaffende Künstler nicht gehindert, seine Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen, wenn er sich einer bereits vorhandenen altüberkommenen Form bedient. Ja jede Persönlichkeit entwickelt sich sogar, sie prägt sich stärker aus, wenn sie sich nicht über einen hergebrachten und fest bestimmten Rahmen hinaus bewegt. Diese Ueberlegung Veranlaßte mich damals, auf stille anonyme Formeln einer entlegenen Zeit zurückzugreifen und mich ihrer in starkem Maße bei einem Opernoratorium

„Oedipus“ zu bedienen, zu dessen strengem und feierlichem Thema sie besonders gut passen.

Am 14. März 1927 beendete ich die Partitur. Ich sagte bereits, daß wir, gemeinschaftlich mit Cocteau, beschlossen hatten, daß die erste Aufführung im Rahmen der Diaghilew-Gastspiele in Paris stattfinden sollte, und zwar zum zwanzigjährigen Bühnenjubiläum meines Freundes, das in den Frühling dieses Jahres fiel. Wir — das heißt seine Freunde — wollten damit eine Tatsache feiern, die in den Annalen des Theaters sehr selten ist, daß nämlich ein rein künstlerisches Unternehmen, bei dem niemand auf materiellen Gewinn hoffen kann, eine so lange Zeit überdauern und viele Prüfungen — darunter den Weltkrieg — hatte überstehen können, einzig und allein dank der Energie und der beharrlichen Ausdauer eines einzelnen Menschen, der von seinem Werk besessen war. Wir wollten ihm eine Ueberraschung bereiten, und es gelang uns, das Geheimnis bis zum letzten Augenblick zu wahren. Wenn es sich um ein Ballett gehandelt hätte, wäre das nicht möglich gewesen, denn ohne die Mitarbeit von Diaghilew wären wir da nicht weit gekommen. Im übrigen mangelte es uns auch an Zeit und Geld, um „Oedipus Rex“ in szenischer Form herauszubringen, und darum hatten wir beschlossen, das Werk als Oratorium aufzuführen. Auch so waren die Kosten für Solisten, Chöre und Or-

STRAWINSKY DIRIGIERT Karikatur von Gerard Hoffnung ehester hoch genug, und wir hätten unseren

Plan niemals durchführen können, wenn nicht

■die Prinzessin Edmond de Polignac uns wieder einmal geholfen hätte.

Die erste Aufführung des „Oedipus“ fand am 30. Mai im Theätre Sarah Bernhardt statt. Sie wurde damals noch zweimal unter meiner Leitung wiederholt. Abermals hatte ein Werk von mir darunter zu leiden, daß man ihm einen falschen Platz zugewiesen hatte: ein Oratorium zwischen zwei Akten Ballett! Das Publikum, das Tänze sehen wollte, wurde durch diesen Kontrast außer Fassung gebracht, es war unfähig, sich plötzlich vom Gesicht aufs Gehör umzustellen. Ich war daher von den späteren Aufführungen des „Oedipus“ — als Oper unter Klemperer in Berlin, im Konzert unter meiner Leitung in Dresden, London und Paris — weit mehr befriedigt.

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