"Monsieur Vénus": Hier werden Identitäten neu gedacht
Anton Thuswaldner über "Monsieur Vénus" von Rachilde im aktuellen "Wiedergelesen".
Anton Thuswaldner über "Monsieur Vénus" von Rachilde im aktuellen "Wiedergelesen".
Im Jahr 1884 erscheint in einem auf erotische Literatur spezialisierten Brüsseler Verlag der Roman einer 24-jährigen Französin, der als derart anstößig empfunden wird, dass der Verfasserin in Belgien zwei Jahre Haft und eine Geldstrafe von zweitausend Franc drohen. Der Vorwurf, gegen die Sitten verstoßen zu haben, wiegt schwer, an Feindseligkeiten vonseiten der Kritik, die sich als Hüterin der Ordnung versteht, hat Rachilde, wie sich die Autorin nennt, eine Menge zu ertragen. Sie ist aber hart im Nehmen und kämpferisch, geht es ihr doch um etwas Dringendes. Früh will sie sich mit den Rollenzuweisungen als Frau nicht abfinden und strebt nach Unabhängigkeit.
Geboren 1860 als Marguerite Eymery, Tochter eines Offiziers, der lieber einen Sohn gehabt hätte und sie das spüren lässt, sucht sie sich ein Pseudonym, welches ihr erlaubt, sich eine Identität neu zu erfinden. Sie schafft sich eine Visitenkarte an, die sie als „Rachilde – Homme de Lettres“ ausweist. Sie bekommt die polizeiliche Erlaubnis, sich nach dem Vorbild der Schauspielerin Sarah Bernhardt als Mann zu kleiden und sich so in der Stadt zu bewegen. Über 60 Romane veröffentlicht sie, die mit 93 Jahren in Paris stirbt. Berühmt ist ihr Salon, der die geistige Elite des Fin de Siècle miteinander ins Gespräch bringt. Worin besteht das Verwerfliche des Romans „Monsieur Vénus“, dass die Autorin gar nicht erst wagte, ihn in Frankreich erscheinen zu lassen? Nichts weniger als die gesellschaftliche Ordnung steht auf dem Spiel. Die aus adeligem Hause stammende Raoule hält sich – so muss man es sagen! – einen jungen Mann, mit dem sie nach Belieben verfährt. Sie lebt jene Fantasien aus, die eigentlich Männern vorbehalten sind.
Ein Prozess der Verweiblichung des Mannes wie der Vermännlichung der Frau findet statt. Erotische Fantasien gut und schön, aber Frauen haben auch in der sonst eher freizügigen Zeit der Jahrhundertwende Objekte zu sein. Dazu kommt, dass Klassengrenzen nicht akzeptiert werden, zumal der Mann aus einfachen Verhältnissen stammt. Ganz Kind ihrer Gegenwart bedient sich Rachilde einer Sprache, die an Schwülstigkeit nicht spart. Das entspricht der Zeit, in der der Symbolismus seine Wirkkraft entfaltet, was Bedeutsamkeit suggeriert, heute aber recht aufgeputzt wirkt. Dann gleitet ein „Blick über die skulpturalen Formen dieses Fleisches, das die heißen Dünste der Wollust ausströmte“. Der frühe Heinrich Mann geriert sich vergleichbar gespreizt. Für den Ausnahme fall kommt Rachilde eine Ausnahmesprache gerade recht. Wie eine Frau ihre Zeitgenossen vor den Kopf stößt, frappiert heute immer noch.
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