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Nachlaß zu Lebzeiten

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Noch kein Autor hat, wie Musil, seinen Nachlaß zu Lebzeiten mit einer ans Unmenschliche grenzenden Kraftanstrengung so sehr ins Fragmentarische hinein atomisiert, wie Musil, aber es ist sicher auch noch keinem Autor so sehr gelungen, mit eben dieser Verfahrensweise, die irgendwie seiner Lebenssituation entsprach, die Neugierde der Nachkommenden zu reizen und an sich zu ziehen.

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Noch kein Autor hat, wie Musil, seinen Nachlaß zu Lebzeiten mit einer ans Unmenschliche grenzenden Kraftanstrengung so sehr ins Fragmentarische hinein atomisiert, wie Musil, aber es ist sicher auch noch keinem Autor so sehr gelungen, mit eben dieser Verfahrensweise, die irgendwie seiner Lebenssituation entsprach, die Neugierde der Nachkommenden zu reizen und an sich zu ziehen.

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Zweifellos, der Schatz Musil ist noch lange nicht gehoben. Aber Geschichte — und in diesem Fall von Literaturgeschichte zu sprechen, erfüllt fast mit Trauer — vollzieht sich nur langsam und es dauert eine Weile, bis Ereignisse, die es wirklich sind und nicht nur scheinbar, den Weg aus dem Dunkel ihrer Herkunft zu unserem Schulwissen finden. Nun, dieses Dunkel war für Musil kaum Licht genug, aber der Hinweis, daß der bedeutendste Autor, den Österreich in jüngster Vergangenheit hervorbrachte, im Ausland nahezu verhungerte, mag vom Ausland mit weniger schlechtem Gewissen quittiert werden, denn Musils Nachlaß findet sich ja dort in allerbesten Händen.

Nach wie vor steht das Hauptwerk Musils, das jetzt bei Rowohlt in einer Neuauflage erschien, im Mittelpunkt aller Fragen. Vergleicht man diese Ausgabe mit der ersten, die im Jahre 1952 erschien, so freut man sich an der Beliebtheit, die Robert Musü offensichtlich schon auf dem Büchermarkt genießt, die erste Auflage geht bis zum 50. Tausend Die Geschichte der Herausgabe dieses Werkes entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Zu Lebzeiten Musils war nur der erste und zweite Band erschienen, der ein Fragment des dritten Teils enthielt und mitten in der Handlung abbrach. Dies und die politische Situation waren die Gründe für die Vergessenheit, der Musil anheimfiel. Trotzdem arbeitete er in ungebrochener Anstrengung in seinem Genfer Exil an dem gewaltigen Romanwerk, dessen einzelne Kapitel er nach seinem plötzlichen Tod (er starb im 61. Lebensjahr an einem Gehirnschlag) teilweise vollendet, korrigiert, teilweise neu entworfen, und, was den Schluß des Romans anlangt, der zum Ansatzpunkt verschiedener Spekulationen geworden ist, skizziert und in Andeutungen umrissen, hinterließ. Musil konfrontierte die Umwelt also abermals mit einem Torso. Es war die Aufgabe der Herausgeber, den Eindruck der Schönheit eines Torsos zu vermitteln, der eine Ganzheit, wenn auch nur fiktiver und utopischer Art ahnen läßt. Zweifellos erfüllt die erste Ausgabe, die die Entwürfe und Studien — soweit sie für die Anlage des Werkes wichtig schienen, miteinbezog, diesen Dienst auch heute noch. Trotzdem hätte dieser Ausgabe ein nach dem letzten Stand der Forschung abgefaßter Kommentar vielleicht gut getan. Daran ändert nichts, daß ein solcher Kommentar, der sich mit Einzelstudien beschäftigt, ebenfalls bei Rowohlt erschien. In dieser Sammlung von Studien widmet Dinklage ein Kapitel dem Schluß des „Mannes ohne Eigenschaften“. Hier zeigt sich deutlich wieder, daß jeder Versuch, dem Torso zu entwischen, die Spekulation in eine bestimmte Richtung zu treiben, Musil im letzten mißdeuten muß, dem jede Reduktion oder Vereinfachung zuwider war. Es ist offensichtlich für die Forschung gleichgültig geworden, ob Musil das Kapitel „Reise ins Paradies“, das die Vereinigung der Geschwister behandelt, in die letzte Fassung aufgenommen hätte oder nicht, oder ob er als Höhepunkt die mystischen „Atemzüge eines Sommertages“ betrachtete (wobei man der Tatsache, daß er gerade an seinem Todestag an diesem Kapitel gearbeitet hatte, Bedeutung beimißt.) Der Dualität der Erkenntnismöglichkeiten steht immer die Oszillation zwischen Fläche und Tiefe, zwischen analytischer Schärfe und mystischer Versenkung gegenüber. Der Roman hätte als solcher noch eine materialmäßige Auftreibung erfahren, indem Musil, wie aus den Aufzeichnungen hervorgeht, vorgehabt hätte, Ulrich nach der Begegnung mit dem Scheinwirklichen, wie es Kakanien darstellt, nach der Begegnung mit der im Eros erfahrenen mystischen Hingabe, mit der Geschichte als verändernder Kraft, mit dem Positivismus, zu konfrontieren (Die Bedeutung Rußland und Chinas findet sich in den Notizen, der Hinweis auf die „induktive Gesinnung“) Aber im letzten wäre Ulrich der nihilistische Gottsucher geblieben, der Mann ohne Eigenschaften, der die Identität mit der Wirklichkeit verloren hat, weil diese sich dem Intellekt als auflösbar erweist, der sich dem Augenblick nicht mehr anvertraut, weil er nichts ist, als die Zuordnung widersprechender Momente, der sich der Überzeugung nicht mehr hingibt, weil keinen Anspruch auf Authentizität besitzt, der die „Welt des Seinesgleichen“ verlassen hat, weil sie eben nicht gültig ist. Das Thema der verlorenen Identität, des sich verändernden Verhältnis zur Wirklichkeit ist das Hauptthema einer sich im 19. Jahrhundert anbahnenden, im 20. Jahrhundert vollendenden Revolution der Literatur.

Was die Lektüre des „Mannes ohne Eigenschaften“ immer wieder spannend macht, ist das gezähmte Warten, das in der rationalistisch gebändigten Sprache liegt, die ironische Distanziertheit, die sich dem Zugriff des Bildes entzieht, die in sprachlicher Dichte verklausulierte Ergriffenheit, mit der Musil die andere Wirklichkeit erfahrbar machen will, wie das Auftauchen eines unterirdischen Stromes.

Als Ergänzung zur Neuausgabe des Mannes ohne Eigenschaften ist der Band „Robert Musil, Studien zu seinem Werk“ hg. von Elisabeth Albert-sen und Carl Corino zu empfehlen. Er bietet Beiträge bekannter Musil-forscher, sowie Berichte über Begegnungen mit Musil, unter anderem mit Robert Lejeune, dem Betreuer des Dichters in der Schweiz.

DER MANN OHNE EIGENSCHAFTEN von Robert Musil, hg. von Adolf Frisi. Rowohlt-Verlag, 1632 Seiten, DM 25.—.

ROBERT MUSIL, STUDIEN ZU SEINEM Werk hg. von Elisabeth A (»' bertsen und Carl Corino. Rowohlt-Verlag, 412 Seiten, DM 39.—.

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