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Neuengierd und das Unmöglich

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Dem in jeder Hinsicht gut geratenen Knaben braver Eltern, die in ihrer Liebe für den Einzigen alles taten, was sie ihm von den Augen ablesen konnten und wozu ihre freilich nur bescheidenden Mittel reichten, war das Leben in der häuslichen Behütetheit langweilig geworden. Nichts nützte die spannende Erzählung, die aufregende Schilderung von fernen Ländern, wenn Neuengierd — so war er genannt — die Spannung in den Geschichten nicht selbst erleben, die fremden Länder nicht aufsuchen konnte. Daß ihm die Eltern dazu verhülfen, war unmöglich. Sie selbst gönnten sich in den Ferien nur einen kurzen Aufenthalt in der Landschaft der sonst recht reizvollen, aber dem Knaben allzu bekannt erscheinenden Umgebung ihres Wohnortes. Neuengierd träumte von hohen Gebirgen, stürzenden Wasserfällen, von im Feuer des Abend-| rots glühenden Serpentinenstraßen, die bis in den Himmel führten und zu den Nestern der Adler, er träumte von kaum durchdringlichen Urwäldern mit wilden Tieren, die er besiegen wollte.

Die Eltern wußten sich keinen Rat, als er ihnen immer häufiger seine Wünsche äußerte. Schon waren sie in den Fehler verfallen, nachzudenken, wie sie die Sehnsüchte des Knaben nur ein wenig erfüllen könnten, bis einem von ihnen plötzlich der Gedanke kam, daß sie selbst und ihre Nachgiebigkeit schuld an der Unzufriedenheit des Knaben sein könnten. Nun versuchten sie alle Mittel, ihm die „Narrheiten“, wie sie es nannten, auszutreiben. Aber es gelang ihnen nicht. Der Knabe träumte weiter und schalt seine Eltern uneinsichtig und lieblos, während die Eltern dies gerade von dem Sohn behaupten konnten. Als sie von ihrer Not dem Lehrer Neuengierds und Bekannten mitteilten, hörten sie von so viel Mitteln heftiger und wohltuender Art, die ihrem Knaben die verderblichen Gedanken vertreiben würden, daß sie erst recht nicht aus und ein wußten. Alle Mittel, die sie anwendeten, versagten. Der Knabe höhnte sie nur, wenn sie mit wohlmeinenden Ratschlägen kamen, und beharrte trotzend auf seinen Wünschen.

Bis eines Tages den Eltern ein kleiner Junge zu Hilfe kam — ein Zufall, wie sooft im Leben —, der ebenso aufgeweckt und altklug war wie Neuengierd. Er erfuhr aus dessen Mund die absonderlichen Wünsche, aber er tat sie nur mit einer verächtlichen Gebärde ab. „Was bist du für ein Kind“, sagte er zu Neuengierd, „kleine Kinder haben solche Wünsche, die auf irgendeine Weise doch erfüllbar sind. Du solltest dich schämen, als Junge unserer Zeit solche bescheidene Ansprüche zu stellen.“ Nun war Neuengierds Neugier geweckt. Er, der stets mißmutig seinen Kopf senkte, sah plötzlich auf und wartete auf das, was ein um einen halben Kopf kleinerer und um fünf Monate jüngerer Kamerad als besonders wünschenswert vorbringen werde. Oder wollte dieser ihm nur mit einem angeblich besseren Wissen imponieren? Steckte vielleicht wirklich etwas hinter der Sache?

Nachdem der Jüngere Neuengierd ein wenig auf die Folter gespannt hatte, begann er: „Was soll es schon sein, das wir uns wünschen? Das Unmögliche! Das ist erst das Große! Die fremden Länder haben schon Tausende gesehen, und die dort wohnen, für die sind sie überhaupt nichts Neues. Aber das, was niemand zu wün-“ sehen wagt, weil es ihm unmöglich erscheint, das muß unsere Sache sein!“

Worin das Unmögliche bestehe, warf etwas kleinlaut Neuengierd ein. Nun, es gebe so manches, das uns Geheimnis bleiben wolle, eine Reise in die Vergangenheit zum Beispiel wäre doch etwas, was nicht so leicht sich einem erfüllen würde. Wenn es schon Orte gebe, an denen man die Vergangenheit gleichsam atmen könne, die Menschen, die in ihnen wohnten, seien doch aus unserer Zeit und lebten diese, nicht die ferne, vergangene.

„So scheint es unmöglich, in die Vergangenheit zu reisen?“

„Ich arbeite fest darauf hin“, sagte der fremde Knabe, „und du mußt es auch. Warum sollte es nicht gelingen?“

„Richtig! Warum sollte es nicht gelingen?“ Neuengierd war bei seinem Ehrgeiz gepackt. Er fragte, wie man es beginnen solle.

Nachdenklich erklärte der andere: „Bücher der alten Zeit lesen und'alte Bilder schauen.“

Neuengierd war Feuer und Flamme. Er wollt mittun.

Sie versprachen einander zu helfen. Und sie übersahen. dabei das wirklich Unmögliche an ihrem Vorhaben. Wie sollte nur etwas möglich sein, was wirklich unmöglich war? Da war es noch leichter, Berge abzutragen oder für Strek-ken Landes die Sonne zu verdecken. Aber was vergangen war, war unweigerlich vergangen und nicht wieder zum Leben zu erwecken.

Der Knabe Neuengierd konnte in der Folgezeit seine Eltern bewegen, ihn des öfteren in Museen zu führen und alte Bücher für ihn aus Bibliotheken zu entleihen, in denen er mit großer Hingabe las. Von den Bildern in Galerien war er kaum wegzubringen. Die Eltern freuten sich über die Veränderung in ihres Sohnes Wesen und seine neue Leidenschaft. Nicht mehr sprach er von weiten Reisen und Abenteuern der Ferne, die Historie hatte ihn ganz erfaßt. Sie waren nun auch zufrieden, weil sie dachten, daß diese Zuneigung ihm bei seinem späteren Studium nur helfen könne.

Neuengierds Sinnen und Trachten aber ging von nun an zu fast jeder Stunde um die Verlebendigung des Toten. Manchmal kam ihm diese Bestrebung selbst seltsam vor, aber diesmal verriet er niemandem seine Absichten. Bis in die Träume schien er von seinen Ideen begleitet. Denn eines Nacnts hatte er eine seltsame Erscheinung im Schlaf. Einer seiner Lehrer, der vor kurzem verstorben war, stand plötzlich wieder leibhaftig vor ihm. Neuengierd wunderte sich nicht einmal besonders, wie man sich eben in Träumen selten wundert. Er dachte auch nicht, daß er jetzt ein Stück von dem, was er so sehnlich wünschte, erlebte, etwas Unmögliches. Ebenso selbstverständlich wie des Lehrers Wiederkunft nahm er dessen Kunde hin.

„Du mußt“, sagte dieser, „bei Vollmondschein auf dem Stephansplatz, dort wo man zum Turm aufsteigen kann, nach einer Tafel suchen, welche die .Abfahrt in die Vergangenheit' anzeigt.“ Dort könne er eine Falltür öffnen und wie in einem Aufzug zur Tiefe fahren. Unten angekommen finde er alles unverändert, was es einmal gegeben habe. Nicht nur aufbewahrt, sondern am Leben. „Denn“, so fügte er hinzu, „wie sollte es denn sonst sein. Die Zeit ist einfach darübergewachsen, das vergangene Leben ist noch nicht verschwunden.“ Und Neuengierd wiederholte nur: „... noch nicht verschwunden ...“ Der Lehrer hatte recht.

Das sagte sich Neugierd ebenso, als er erwachte und sich erinnerte, daß dieser gestorben war. Der Lehrer war also auch wieder gekommen. Also muß seine Mitteilung stimmen. Darüber gab es jetzt keinen Zweifel. Es war nur schade, daß er ihm aufgetragen hatte, niemandem davon zu erzählen und die Fahrt ganz allein anzutreten, wenn sie glücken solle. Zu gern

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