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Nota con/uncta

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Im Verlag Herold, Wien-München, der die deutschen Rechte für das Gesamtwerk des französischen Dichters Charles Peguy besitzt, erschienen soeben dessen „Nota conjuneta“, aus denen wir im folgenden einen kurzen Auszug veröffentlichen.

Von allen Gedanken, die je in Form einer Maxime ausgesprochen wurden, ist, glaube ich, der allereinfachste zweifellos folgender, daß nämlich für die Leidenschaft jedermann tauglich sei. Wollte ich eine christliche Sprache reden, so würde ich sagen, daß nicht einmal für die Sünde jedermann tauglich sei. Sogar für die Sünde gibt es eine Auswahl und Erwählung. Die Naturen, die für die Sünde tauglich sind, sind von der gleichen Natur, gehören der gleichen Ordnung an wie die, welche für die Gnade tauglich, sind. Und die Gnade und die Sünde sind zwei Operationen des gleichen Reiches. Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Und draußen ist eine ungeheure Menge derer, die mitsammen weder für die Sünde noch für die Gnade taugen. Denn die Sünde mitsamt der ■ Gnade sind die beiden Operationen des Heils, die hermetisch ineinandergreifen. Und draußen ist die ungeheure Menge derer, die nicht einmal imstande sind, zu sündigen, und die ich die Intellektuellen oder die Intellektualisten in der Ordnung der Sünde nennen möchte; in der Ordnung der Gnade; des Heils.

Ich bin überzeugt, daß es sich in allen Ordnungen gleicherweise verhält, und daß es sehr wenige gibt, die für das Glück tauglich sind, wie es nur sehr wenige gibt, die für das Unglück tauglich sind. Und draußen ist die ungeheure Menge all jener, die, mitsamt und im gleichen Zuge, aus dem gleichen Unvermögen, der gleichen Unfruchtbarkeit, weder für das Glück noch für das Unglück taugen. Und die ich die Intellektuellen in der Ordnung des Glücks nennen möchte.

Ebenso steht es mit der Leidenschaft. Die Liebe ist noch seltener als sogar das Genie. Sie ist ebenso selten wie die Heiligkeit. Und die Freundschaft ist noch seltener als die Liebe. Zu sagen, jeder sei für die Leidenschaft tauglich, ist ebenso falsch und ich möchte sagen ebenso töricht und ich möchte sagen ebenso schulmeisterlich und ebenso rasch gesagt wie: Jeder ist für die Bildhauerei tauglich, oder: Jeder ist für die mathematische Analyse tauglich. Es gibt überall Intellektuelle. Das heißt: Es gibt eine ungeheure Menge von Menschen, die mit fertigen Gefühlen fühlen, im gleichen Maße, wie es eine ungeheure Menge von Menschen gibt, die mit fertigen Gedanken denken, und im gleichen Maße, wie es eine ungeheure Menge von Menschen gibt, die mit einem fertigen Willen wollen, im gleichen Maße, wie es eine Unmenge „Christen“ gibt, die die Worte des Gebetes mechanisch herunterleiern. Und man könnte sich weit umtun und alle Abteilungen durchlaufen und man könnte sagen: In dem gleichen Maße, wie es eine Unmenge Maler gibt, die mit fertigen Strichen zeichnen. Maler, die hinsehen, sind ebenso selten wie Philosophen, die denken. *

Was dem Heil selbst am meisten entgegen ist, das ist nicht die Sünde, sondern die Gewohnheit. Tausende von Gläubigen wiederholen mechanisch diese erschreckenden Worte: Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Geschähe es, daß ein einziger sie unversehens, in einer plötzlichen Erleuchtung, ernst nähme, diese Worte, daß er sie gleichsam in sich eindringen ließe, so ereignete sich sogleich die größte Revolution, die augenblicklich stattfinden könnte, denn dies wäre eine Revolution im Herrschaftsbereich des Geldes, ein LImsturz der Herrschaft des Geldes. Und wiederum wäre ein Mensch gerettet.

Sich selbst besiegen — die einzige genaue Niederlage und auch die einzige vollständige. Die einzige unwiderrufliche Art, besiegt zu werden. Wenn man von den anderen besiegt wird, so können sie sich täuschen (sie sind Menschen). Sie wissen nicht genau, wo sie einem weh tun können. Wer sich selbst besiegt, weiß, mit einer gräßlichen Genauigkeit, wo er sich weh tun kann.

Sich selbst besiegen: auf nicht wieder gutzumachende Weise besiegt werden; die schlimmste Niederlage; die einzige Niederlage, die zählt; die einzige auch, von der man sich niemals wieder erhebt.

Dulden, Erdulden, Ertragen heißt nicht, keine Zähne haben. Heißt, welche haben und aushalten, daß sie einem gezogen werden. Und heinach heißt es nicht, niemals welche gehabt haben. Heißt vielmehr, welche gehabt und aus-gehalteri haben, daß sie gezogen wurden. Der Miärtyrer in der Arena ist nicht jemand, der keine Glieder hatte. Er ist vielmehr jemand, der welche hatte und der es ertrug, daß man sie ihm abriß. Und wir, die wir nichts zu geben haben oder vielmehr uns nichts anderes nehmen lassen können als armselige Tage, für uns heißt Dulden, Erdulden nicht, diese armseligen Tage nicht zu haben, sondern zu dulden, daß sie — nichts anderes, genau dies —, daß sie uns entrissen werden.

Die Sorgen des Alters auf das Alter verschieben. Die Geruhsamkeit des Alters auf das Alter verschieben. Nicht das Heute und die Freiheit und die Fruchtbarkeit des Heute der Geruhsamkeit des Morgen opfern. Nicht ein ganzes Leben, die Freiheit und Fruchtbarkeit eines ganzen Lebens der Geruhsamkeit des Alters opfern. Nicht eine ganze Welt einem künstlichen, vorweggenommenen, betrügerischen Alter der Welt opfern.

Nicht das Heute alt machen; es altert noch immer rasch genüg. Nicht das Leben alt machen; es altert noch immer rasch genug. Nicht eine ganze Welt alt machen; sie altert noch immer rasch genug.

Das ist die rechte Moral, das ist wirtschaftlich, das ist wahrer Bürgersinn. Nicht das Heute zugunsten des Morgen veräußern. Nicht ein ganzes Leben zugunsten des Greisenalters veräußern. Nicht eine ganze Welt zugunsten eines Greisenalters veräußern.

Wer spart, wer Geld für seine alten Tage zurücklegt, der, genau der ist im strengsten Sinne ein Verschwender, und zwar ein schlechter Verschwender. Denn er verpfändet, er veräußert seine Freiheit, seine Fruchtbarkeit, die seine wahren Güter sind. Er verkauft sie, und was er zurücklegt, ist eben der Erlös dieses Verkaufs.

So kann ein ganzes Volk seine Freiheit verpfänden, seine Fruchtbarkeit veräußern, seine Rasse verkaufen, um dafür Staatsrenten zu kaufen. Wenn es aber kein Volk und keine Rasse mehr geben wird, wo bleibt dann der Staat?

Ebenso soll man in der Psychologie und in der Metaphysik nicht die Gegenwart verpfänden, nicht die Gegenwart veräußern, die ja doch der Wesenspunkt ist, und der Freiheitspunkt, und der Lebenspunkt, und der Fruchtbarkeitspunkt. Nicht eine vorweggenommene Vergangenheit herstellen, eine vorzeitige Geruhsamkeit, eine R.uhe zur Zeit der Plage, eine Muße zur Zeit der Arbeit, einen Ruhestand zur Zeit der Aktivität, eine Haltezeit zur Zeit der Bewegung, einen Frieden in Kriegszeit, einen Tod bei Lebzeiten. Nicht die Gegenwart, die Beweglichkeit, die Freiheit, die Fruchtbarkeit der Gegenwart verkaufen, um den Preis, den man dafür erlöst hat, für den Augenblick danach zurückzulegen. Nicht von der Gegenwart sparen und Ersparnisse machen.

Man sagt immer: sparen, Ersparnisse machen. Man müßte wissen, was man sparen soll. Hier wäre die Theorie des Geldes anzuziehen, und die Mathematiker würden mich verstehen, noch ehe ich zu reden begonnen hätte. Da das Geld beim Kauf den Gegenwert dessen darstellt, was mit seiner Hilfe erworben wird, so ist jedes Geldgeschäft eine Gegenanzeige, jedes Geldgeschäft eine Gegensetzung, eine Gegenverrichtung, ein Gegengeschäft, eine Gegenwirkung zu der entsprechenden Wirkung des Gegenstandes.Wer Geld spart, ist ein Veischwender dessen, was er, um dieses Geld zu haben, verkauft hat. Der Geizige ist ein Verschwender. Er ist sogar der einzige Verschwender, der wahre Verschwender. Der Geizhals, der auf seinem Geld hockt, ist ein Verschwender dessen, was er, um dieses Geld zu haben, verkauft hat. Er vergeudet und verschwendet seine Seele, die er um nichts verkauft hat, um Geld.

Und im Gegenteil ist der Barmherzige der wahre Geizige, der sich Güter anhäuft; ich habe es oft genug in dichterischer Sprache gesagt. Und der Geizige vertut seine Schätze. Und der Verschwenderische hortet einen Schatz.

Das ist die tiefste Lehre der Evangelien, die allenthalben gegenwärtigste in den Evangelien, und gewiß jene Lehre, auf die Jesus offensichtlich den größten Wert legte.

Wir stehen so sehr unter der Herrschaft des Geldes, es ist so sehr der Antichrist und der allenthalben gegenwärtige Meister der modernen Welt, daß sein Name in unserem alltäglichen Sprachgebrauch immer mitgemeint ist. In unseren Reden. In unseren Redensarten. Auch wenn man es nicht nennt, weiß man, daß es gemeint ist. Auch wenn man nicht eigens darauf hinweist, weiß man, daß es da ist. Wenn man gar nichts sagt, dann ist von ihm die Rede.

Wenn man nichts nennt, dann ist es genannt. Wenn man nichts vorbringt, dann wird es vorgebracht.

Wenn man nicht denkt, sind die Gedanken bei ihm.

Wir sagen: sparen erübrigen, zurücklegen, ohne nähere Bestimmung. Das ist ein fertiger Ausdruck und das heißt nicht, irgend etwas ersparen, erübrigen, zurücklegen. Das heißt Geld sparen, .Geld erübrigen, das heißt ein Anti-objekt, einen Antiwert zurücklegen.

Wenn man doch nur ausreden wollte, wenn man doch nur den vollständigen Ausdruck gebauchte, wenn man sagte: Geld sparen, Geld erübrigen, Geld zurücklegen, dann wäre man doch wenigstens etwas gewarnt, dann wüßte man doch annähernd, wovon man spricht. Und wovon die Rede ist. Das aber gilt es ja um jeden Preis zu vermeiden: daß man annähernd weiß, was man sagt: Und so gebraucht man diese farblosen, diese neutralen Verben (neutral, das ist bei Gott der rechte Ausdruck). Und da sie neutral sind, hält man sie für tugendhaft. Und so lassen sie den schmutzigen Geiz passieren.

Wer kurzweg spart, und wer tugendhaft scheint, wer kurzweg erübrigt, wer kurzweg zurücklegt, wer so die Gegenwart der Zukunft opfert und eine ganze Welt in den Ruhestand versetzen möchte, sammelt seine Kräfte für später, er sammelt für später etwas, wofür er seine Kräfte verkauft hat.

Das* ist einander ebenso entgegengesetzt, ebenso gegensätzlich in der allgemeinen Buchführung, wie das Soll und Haben auf den beiden Seiten eines Kontobuches.

Er sammelt Güter an, sagt man. Nein, er sammelt das, wofür er sein Hab und Gut verkauft hat.

Das ist ein Antisammeln, das Ansammeln eines Antischatzes. Ihr sollt keine Schätze haben auf Erden.

Man redet in aller Unschuld. Man bedient sich ganz unschuldiger und vermeintlich tugendhafter Verben. Und weil man das Objekt verschweigt, und weil man nicht bedenkt, ob das mitgemeinte Objekt die Sache, die Kraft ist, oder das Geld, das eine Art Widersache und eine Widerkraft ist, so verbirgt sich unter diesen angeblich unschuldigen Verben etwas Schändliches: der schmutzigste Geist.

Dies ist so einer jener unscheinbaren Widersprüche, die fast nur redensartlich, fast nur grammatikalischer Natur sind, die nur im Wortgebrauch bestehen und an denen eine Welt zugrunde geht.

Wenn man den Buben auf den Volksschulen ein Sparkassenbuch einhändigt, so hat man wohl recht. Denn man gibt ihnen damit recht eigentlich das Brevier der modernen Welt, ein Diplom des Geizes und der Käuflichkeit in der Ordnung des Herzens, Und in der Ordnung des Geistes, die nicht so fernab liegt, ein Diplom des Materialismus und Intellektualismus, ein Diplom des Determinismus und Assoziationismus und Mechanismus.

Und in beiden Ordnungen zugleich ein Diplom der Erstarrung und des Geldes.

Und man hat sehr recht, es mit solcher Feierlichkeit als ein Symbol und als eine Krönung und als eine Schatztruhe, einen Geldschrank des Seins und des Gesetzes darzustellen. Ebenso wie die Evangelien eine gänzliche Verdichtung des christlichen Denkens sind, ebenso ist das Sparkassenbuch das Buch und die völlige Verdichtung des modernen Denkens. Es allein ist stark genug, den Evangelien die Stirn zu bieten, weil es das Buch des Geldes ist, welches der Antichrist ist.

Wie viele Unordnungen, wie viele Ausschweifungen erscheinen harmlos und nichtig, verglichen mit dieser falschen Tugend, und dieser falschen Regel, und diesem falschen Gesetz. In den eingestandenen Unordnungen liegt immer man weiß nicht welche Schwachheit, die nicht standhält, die nicht einmal die Stirn bietet. Sie hat anderes zu tun, und es genügt ihr, sich in ihren gewissen Spelunken herumzutreiben. Es genügt ihr, sich in ihrem Winkel zu amüsieren. Man läuft gewiß nicht Gefahr, daß sie die Stelle des Gesetzes einnehmen wollte. Sie weiß sehr wohl, wozu- sie taugt. Der moderne Geiz aber und die moderne Käuflichkeit, unter dem Namen des Sparens, und die moderne Erstarrung und Verhärtung, unter dem Namen des Intellektualismus und Determinismus und Materialismus und Assoziationismus und Mechanismus, sind weitaus gefährlicher. Denn sie sind trügerischerweise starr. Und sie sind trügerischerweise hart. Und weil die Gesetze gemeinhin hart sind, glaubt man, alles, was hart ist, sei notwendigerweise ein Gesetz. So ist die ganze Erstarrung der modernen Welt sozusagen ermächtigt, als ein Gesetz aufzutreten. Und sie läßt sich das nicht entgehen. Auch sie ist ein Zwang. Auch sie ist eine Strenge. Auch sie ist eine Schwierigkeit. Auch sie ist eine Einschränkung. Folglich ist sie vielleicht ein Gesetz.

Nichts ist so gefährlich wie diese Erstarrung, nichts so gefährlich wie diese Starre. Die Unordnungen, die Ausschweifungen, die Verirrun-gen, die Schwächen haben niemals ernstlich den Anspruch auf die Regulierung erhoben. Sie können nur Unregelmäßigkeiten hervorrufen. Gefährlich aber, ein gefährlicher Betrug ist jene falsche Regulierung, jene falsche Regelrecht-heit, jene falsche Regel.

Denn auch sie verpflichtet. ■ Sie kann also Anspruch darauf erheben, eine Moral aufzustellen mit Verpflichtung und Strafe. Auch sie hat gleichsam ein Verdienst und eine Würde. Sie scheint der Ordnung des Gesetzes anzugehören. Sie ist also ermächtigt, sie ist gleichsam zu dem Versuch qualifiziert, die Stelle des Gesetzes einzunehmen. Und das tut sie auch. Sie tritt mit dem ganzen Anspruch und Aufwand des Gesetzes auf.

Die, welche außer der Ordnung oder offenkundig der Ordnung entgegen sind, können der Ordnung über einen gewissen Punkt hinaus keinen Schaden tun. Der aber, welcher aus nachgemachter, aus verfälschter Ordnung besteht, darf hoffen, an die Stelle der Ordnung treten zu können. (Und in diesem Sinne war es immer gemeint, wenn man sagte, daß der Antichrist als ein falscher Christus auftreten werde.)

Das Sparkassenbuch, mit seinem ganzen Aufwand an Pflicht und Strenge, in seiner Starrheit, mit seiner Verwaltung und seiner Bürokratie, mit seinem Zwang und seiner Einschränkung, mit seinem Ernst, mit seinem Anschein gar des Opfers, mit seinem Bchördenwesen, mit seinem Staats- und Verwaltungsapparat, mit seiner verstohlenen und kalten (ansonsten väterlichen) Autorität, in seiner würdigen und gewichtigen und rechteckigen Steifheit, nur das Sparkassenbuch war stark genug, den Evangelien Widerstand zu leisten.

Und also betreibt ein ganzes Volk nicht nur die Vernichtung seiner Rasse, sondern findet gar, daß dies durchaus in Ordnung sei, weil es in einem starren Rahmen geschieht.

In einer starren Moral.

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