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Pasternak und die Gewissensbisse des Westens

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Es ist das Geheimnis großer Erscheinungen, daß sie die Welt, in der sie leben, in Verlegenheit setzen; daß sie Fragen, die man längst gelöst glaubte, noch einmal stellen, so zwar, daß man sie völlig neu durchdenken muß, und daß sie schließlich alles, was an unserer Haltung anfechtbar, an unserer Ueberzeugung nicht wirklich gesichert und \ in unserem Wollen nicht stark und aus einem Guß ist, wie mit einem Zauberstab sichtbar machen.

All das trifft in einem sehr hohen Maße auf Boris Pasternak zu, den russischen Lyriker, Epiker und großen Sprachkünstler, den manche westlichen Gazetten in bestürzender Instinktlosigkeit einen „Sowjetschriftsteller” genannt hatten, um sich bald darauf von der „Prawda” und der Moskauer Literaturzeitungen eines besseren belehren lassen zu müssen. Wohlverdiente Lektion!

Der Osten hat das Problem, dąs ihm Pasternak zu lösen gab, nicht zu bewältigen verstanden. Man war unsicher, man zögerte und wartete, nahm aber schließlich doch wieder zu den alten, häßlichen Unterdrückungsmaßnahmen Zuflucht, die man nur der Form nach verfeinert hat, wodurch sie eher noch unerträglicher geworden sind.

Aber hat der Westen die Probe bestanden? Fand ihn die Stunde groß, und einig und würdig auch? Wir haben so lange gewartet, daß von drüben ein Signal hochsteigen würde! Ein einziges Signal nur, sagten wir, eine einzige Leuchtkugel — und wir könnten hoffen, vertrauen, warten, beten und lieben! Eine einzige Leuchtkugel nur — aber als sie wirklich groß und prächtig gegen den östlichen Himmel hochstieg, da haben wir nicht hingeblickt, oder wir nörgelten und fanden allerlei auszusetzen an diesem Ostlicht.

Das alles klingt vielleicht etwas überschwenglich oder gar sentimental, und so wollen wir uns einmal ganz nüchtern den Tatsachen zuwenden, rekapitulieren, wie sich die Dinge ereignet haben und welche Reaktionen sich in den einzelnen Phasen dieser seltsamen Geschichte verzeichnen ließen. Die Fabel darf als bekannt vorausgesetzt werden: Pasternak gab das Manuskript „Dr. Schiwagos” einem italienischen Verleger namens Feltrinelli mit, dieser erkannte die überragenden literarischen Qualitäten des Werkes und beschloß, den Roman zu veröffentlichen. Eine Tat von Mut und Unabhängigkeit, denn Feltrinelli stand den Kommunisten nahe. Eine englische und deutsche Uebersetzung folgten. Dann tauchten Gerüchte auf, Pasternak könnte den Nobelpreis erhalten, was im Oktober 1958 auch tatsächlich geschah.

Schalten wir nun wieder zurück auf die Wochen und Tage, die der großen Stockholmer Auszeichnung vorangingen, analysieren wir unsere eigene Haltung ohne Selbstgefälligkeit und Retuschen! Als die ersten Mutmaßungen, daß Pasternak den Preis erhalten könnte, in Umlauf kamen, da ließ sich in den intellektuellen Kreisen des Westens eine lebhafte und gar nicht unangenehme Erregtheit feststellen. Man sah in dem Kommenden nicht so sehr eine große Tat, der ein großes Opfer gegenvVr- stehen könnte, man empfand es mehr als einen höchst raffinierten Trick, eine kühne, dabei schwer zu beantwortende Herausforderung. Ein intellektueller David, der einem östlichen Goliath ein Rätsel zu lösen aufgibt, mit dem er, nie fertig werden wird. Sowjetische Plumpheit, überrieselt vom Gelächter des tapferen Schneiderleins. Allen zur Ehre muß gesagt werden, daß, als die Verleihung tatsächlich kam, die problematischen Obertöne verschwanden und einer ehrlichen Ergriffenheit Platz machten. Es war, als sei der verlorene Sohn heimgekehrt, vielleicht in schlichter Kleidung, aber großen Herzens. Dieser Augenblick war rein geblieben. Eine andere Frage ist freilich, ob die optimistischen Voraussagen, die damals das Bild beherrschten, unserer Kenntnis der Sowjetmentalität das beste Zeugnis ausstellen. Wieder einmal hat man den Kardinalfehler begangen, westliche Maßstäbe auf sowjetisches Handeln anzulegen, wieder einmal hatte man übersehen (oder übersehen wollen!), daß im Reiche Chruschtschows, ebenso wie im Reiche Stalins, das absolute Primat der Innenpolitik gilt. Daß im Augenblick, da ein inneres Sicherheits- und Lebensprinzip in Frage gestellt ist, Erwägungen über die Reaktion des Auslandes zu einem federleichten Nichts zusammenschrumpfen. Auch das tiefe Trauma, das die ungarischen Ereignisse in der sowjetischen Führung ausgelöst haben, wurde leichtfertig aus dem Kalkül gelassen. Vergessen war die Chruschtschow zugeschriebene Bemerkung, daß es nie zu dem ungarischen Volksaufstand gekommen wäre, hätte man nur eine Handvoll Schriftsteller rechtzeitig unschädlich gemacht. Was folgte, war das berühmte Telegramm des Dichters: „… äußerst dankbar, bewegt, stolz, erstaunt, beschämt”, dann seine Ablehnung: „Mit Rücksicht auf die Gesellschaft, in der ich lebe.

Zwischen diesen beiden Botschaften machte sich in der Meinung der freien Welt ein tiefer Riß bemerkbar. Es gab jene, die bei der Ansicht blieben, man hätte richtig gehandelt. Andere wieder bezweifelten nun plötzlich die Weisheit, ja den Anstand der ehrenden Entscheidung. Beide Meinungen lassen sich natürlich vertreten. Aber im Ton der Kritiker schwang plötzlich eine hämische Gereiztheit, eine schlecht verhohlene Schadenfreude mit, die einen äußerst peinlichen Eindruck hinterließ: „Da haben wir es, das kommt von eurer Geschäftigkeit, von eurem Unvermögen, das ruhen zu lassen, was man ruhen lassen sollte.” Da und dort sank man noch tiefer; den Grund zu erreichen, war einer österreichischen Tageszeitung Vorbehalten, die Pasternak mit den Schriftstellern verglich, die sich der braunen Unmenschlichkeit verkauft hatten. Ihnen werfe man vor, mit dem System Kompromisse geschlossen zu haben, bei Pasternak hingegen sei dasselbe billigenswert und gut! So beschämende Entgleisungen — die Sünde der Schriftsteller im dritten Reich war nicht, daß sie mit dem System ein Kompromiß schlossen, sondern, daß sie dieses Kompromiß in ihr Werk einbauten, so Integrität und Selbstachtung einbüßend — blieben vereinzelt, aber ganz allgemein zeigte’ sich ein großes Unverständnis dessen, was sich nun um Pasternak abspielte, ein Unverständnis fast tragischen Charakters, da sie die Tat und den Mut Pasternaks verdunkeln und ihn als einen mehr unüberlegten als heroischen Mann erscheinen lassen.

Es ist vielleicht gut, sich die Fragen vorzulegen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden: War es überhaupt richtig, den „Doktor Schiwago” zu drucken? Hat nicht bereits Feltrinelli sein Vertrauen mißbraucht? Konnte man es dann noch verantworten, die sowjetischen Machthaber neuerlich durch die Verleihung des Nobelpreises zu reizen? Und hat nicht Pasternak auf seine Art dem Westen die richtige Antwort erteilt, als er in dem Brief an Chruschtschow demütig bat, in der Heimat bleiben zu dürfen, von dem Angebot, in die Emigration zu gehen, keinen Gebrauch machen zu müssen? Zeigten nicht schon die Worte, mit denen der Nobelpreis abgelehnt wurde, so etwas wie echte Umkehr an? Wer diese Frage beantwortet, muß wohl davon ausgehen, daß Pasternak ein alter, sehr welterfahrener Mann ist, der seine Schritte wohl überlegt. Wenn er also das Schiwago- Manuskript aus Rußland herausbringen ließ, so wollte er, daß es gedruckt wird. Und er muß zur gleichen Zeit das ganze furchtbare Risiko ins Kalkül gestellt haben. Er tat damit, bewußt und kühn, das, was John Steinbeck später die „Verpflichtung des Schriftstellers” nennen sollte:- er hat seine Welt gesehen “Sfet beschrieben und zu ihr Stellung genommen. Es muß für ihn eine Genugtuung sein, zu sehen, daß sein Werk überall dort in der Welt ein Echo gefunden hat, wo es frei zugänglich ist. Er hat es nicht notwendig, daß man ihn bedauert. Ganz gleich, wie grausam man ihm mitspielt. Meine Betrübnis gilt den armseligen offiziellen Schriftstellern, die zu Gericht sitzen über ein Buch, das sie selbst nicht lesen dürfen. Schließt man sich dieser Auffassung an, gesteht man Pasternak zu, daß er nicht ins Unheil gestolpert ist wie ein Tölpel, sondern das Risiko bewußt auf sich nahm, um seinem Werk weltweite Verbreitung zu sichern, dann kann man auch in dem Entscheid des Stockholmer Komitees keine wirkliche Zäsur erblicken.

Was nun die Briefe anbelangt und das Telegramm, mit dem Pasternak die Auszeichnung ablehnte, so gibt es natürlich zwei Lesarten. Die erste besagt: Pasternak war damals nicht mehr Herr seiner Entscheidungen und, was bei einem Schriftsteller fast furchtbarer ist, Herr seiner Worte. Die zweite glaubt dem, was er sagte und schrieb, will aus der Diktion allein die Authentizität der Dokumente und Willensäußerungen ableiten; was bei dem Ablehnungstelegramm eher einleuchtet als bei dem Brief an Chruschtschow. Merkwürdigerweise spielt es aber bei der Beurteilung des Falles kaum eine Rolle, ob man nun die eine Lesart für wahrscheinlicher hält oder die andere. Es ist anzunehmen, daß Pasternak für sicher annahm, von seinen westlichen Freunden nicht mißverstanden zu werden. Er hat in „Dr. Schiwago” fast prophetisch die eigene Situation vorweggenommen. Er hat das Bild von dem Pferd geprägt, „das sich selbst durch die Manege reitet”, und hat ganz klar gemacht, daß er für jene, die die Hand küssen, die sie schlägt, die aus den Demütigungen durch das Regime „inneren Nutzen ziehen”, nur Verachtung übrig hat.’

Aber selbst wenn er sich nicht auf diese Weise gesichert hätte, hätte er wahrscheinlich nicht geglaubt, daß der Sinn für das Opfer im Westen so verkümmert ist, daß seine Tat mißverstanden werden könnte und daß man wieder das bequeme und scheinbar so anständige Klischee auspacken würde, daß man nicht hinterm warmen Ofen sitzen dürfe, während man andere an der Front weiß. Als gäbe es je eine Auseinandersetzung ohne Hinterland und Kampfgebiet, als könnte nicht jedes Hinterland schon morgen die Front sein!

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