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Digital In Arbeit

Peter Anich, der STERNSUCHER

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30. Fortsetzung

Sie habe ja, seit die Mutter krank liege, die Arbeit von zwei Frauen auf sich. Der offene Fuß der Mutter sei wohl auf die Salbe hin in drei Tagen verheilt, jetzt aber hege sie noch schwächer in ihrem Bett und klage über Schmerzen in den Gelenken. „Bloß die im Büchlein abgedruckten Uhrenzahlen stimmen nicht“, setzte er im gleichen Atem hinzu.

„Hat er sie vielleicht gar nachgerechnet?“

„Ausprobiert hab ich sie.“

Herr von Weinhart schob die Papiere von sich und griff nach dem Buch. Er überflog die Zahlenkolonnen. „Hast leicht all diese Uhren verfertigt?“

Er habe die Rädchen aus Holz gedrechselt und geschnitzelt, das sei doch nicht so schwer, und dazu brauche einer auch nicht erst langmächtig studieren. „Das versteht sich doch von selber, bald einer einmal in seinem Leben in ein Uhrengehäus geblickt hat.“

„Bei dir versteht sich alles von selber.“ Der Professor klopfte ihm auf die Schulter. „Bei uns gelehrten Leuten ist das höchst selten der Fall. Überdies auch bei unserem Rechenbüchelmacher, wie die falschen Zahlen beweisen.“

„Und dann druckt man ein Büchel bereits zehnmal und kein Mensch kommt dahinter, daß da falsche Zahlen darinstehn?!“ Das sonst , so demütige Bauerngesicht brannte schier vor einer solchen Unbegreiflichkeit. Ja, den Pater schmerzte es, daß er einen so heiligen Glauben nun zerstören sollte. „In-soferne bist du also bereits ein Gelehrter, daß du zuvörderst die Fehler der anderen Gelehrten entdeckst.“ Er war aber mit seinem eigenen Scherz wenig zufrieden, legte rasch ein neues Buch auf den Tisch, schlug es auf und las das Titelblatt herunter: „Vorhof der Meßkunst, verlegt bei David Richter anno 1743.“ Peter nickte und blickte ihn feierlich an.

„Wer im Vorhof stehe, brauche freilich nicht glauben, er sei deshalb bereits ein richtiger Landmesser“, sagte der Pater rasch. Er wisse jedoch sonst kein besseres Büchlein, aus dem der Anfänger das Wichtigste über die adelige Schwester der Rechenkunst, die Geometrie, erfahren könne. Auch sei kein Fehler darin. Dafür könne er diesmal bürgen. Dann nahm er einen Stoß neuer Papiere aus dem Schreibtisdi, legte einen feinen messingenen Zirkel dazu, ein Lineal, einen hölzernen Triangel und einen Transporteur und hieß Peter nun allein den geometrisdien Teil des Buches durcharbeiten, soweit er allein eben käme. Dann verließ er ihn, obgleich noch gut eine Viertelstunde Zeit war.

Er blieb aber diesmal auch vor seinen jungen Studenten zerstreut, und die Versuche mit den Wasserpumpen gelangen schlecht.

Als er nach dem Kolleg wiederkam, hatte Peter bereits die Planimetrie hinter sich gebracht und war eben bei der Kugel angelangt. Der Umgang mit Zirkel und Transporteur falle ihm schier noch leichter als die Rechnerei, sagte er strahlend, nur die Namen merke er auch hier am allerschwersten. Allein und mit seinem seligen Herrn Vater sei er ja bereits hinter so manches Geheimnis der eckigen und runden Flächen und Körper gelangt. Freilich sei es einfacher, ja über die Maßen herrlich, daß nicht jeder Mensch alles selbst ausdenken brauche, daß es Bücher gebe, in denen das meiste doch aufgeschrieben sei. Nur eines verwundere ihn, daß auch in diesem sonst so herrlichen Buche nichts von der Zahl Pi stehe. Der Herr Bücherschreiber berechne den Kreis mit einem Verhältnis von 7 zu 23, dort aber, wo es auf genauere Ergebnisse ankomme, von 71 zu 223, das sei nicht bloß umständlich, sondern auch nicht sehr viel anders, als jenes Verhältnis von 1 zu 3, das er selber bei der Kugel einst gefunden habe. Er habe damals gesehn, daß man mit dieser Zahl eben an kein Ende komme, und habe es bleiben lassen. Ein Bücherschreiber aber müsse doch wissen, daß man einem Kreis allein mit dem Pi beikomme.

„Das ist freilich sonderbar“, sagte Herr von Weinhart, „wo man das Pi doch weit über hundert Jahre bereits kennt und gebraucht. Doch so rasch nehmen die Herrn Gelehrten das Neue eben nicht an. Er wird da noch Sein Wunder erfahren. Auch wird Er es im Leben nicht leicht haben, wenn Er alle Mängel sogleich bemerkt.“

„Auch meinen seligen Herrn Vater haben sie lang nicht leiden mögen, weil er kein rechter Bauer war und doch den besten Türken gebaut hat. Aber dann hat er doch eine Leich gehabt, als sei ein Herr gestorben.“

„Auf eine schöne Leich kommt es auch den Herrn gelehrten Kollegen nicht an“, der Pater lachte schallend, „um die ist auch mir nicht bang; auch Er wird sie einmal haben, wenn Er so weitertut. Eine schöne Leich wird er haben.“

Am Nachmittag aber brachte Herr von Weinhart ein neues dickes Buch mit. Er legte es behutsam, wie es sich einem so gewichtigen Werke geziemte, vor den Bauern hin. „Das hab ich in meiner Bücherei noch für dich aufgestöbert“, sagte er, „vielleicht beißt du dir daran die Zähne aus. Und nicht bloß wegen der schönen Leich. Denn was ein rechter Gelehrter werden will, der liebt die Gelehrsamkeit auch allen mißgünstigen Herrn Kollegen zum Trotz. Er tut, was der Herrgott von ihm fordert, genau so wie der Bauer, nur mit mehr Ärger vielleicht aber auch mit helleren Freuden. Mehr braucht Er jetzt darüber nicht wissen.“

„Wenn mich meine Landsleut daheim mit ihrer bösen Nachrede nicht gehindert haben, daß ich zu dir gelaufen bin, wer soll mir denn noch was antun?“ sagte Peter. Er verschluckte sich fast dabei. Dann strich er behutsam über den rotglänzenden Schnitt des Buches, prüfte die braune, gepreßte Lcderdecke und klappte die Schließen auf. Sie waren erhaben und feingliedrig gearbeitet. „Meine Mutter hat so ein Betbuch“, sagte er, „genau so dick ist es. Nur hat es einen schwarzen Ledereinband Der Schnitt glänzt nicht mehr, die Messingschließen aber leuchten wie von reinem Gold.“

„Sie wird es wohl oft gebrauchen“, sagte der Pater. Dann hieß er ihn das Buch aufschlagen. „Wenn es auch nicht von den himmlischen Dingen handelt, so muß ein rechter gelehrter Mann doch auch den irdischen mit Scheu und Demut entgegentreten. Deshalb mag es mein Peter auch als ein Andachtsbuch hinnehmen, als eines, das Ihn die Größe und Vielgestalt dieser unserer sichtbaren Welt schauen läßt, das Geheimnis dieser Welt, wie Er es gern nennt, die Ahnung göttlicher Weisheit und Größe in ihr. Immerhin will dies Buch kein Vorhof sein, sondern eine wohl leichte, wie der Titel besagt, doch vollständige Anweisung zum Land- und Feldmessen.“ Herrn Canzler, den Verfasser des Buches, kenne er wohl nicht, dafür aber den Herrn Doppelmayer, der, wie zu lesen stehe, das Buch mit nützlichen Zusätzen und Anmerkungen versehen habe. Dieser Doppelmayer lebe in Nürnberg, in der Stadt der Kartenmacher und Kosmo-graphen, er habe auch in letzter Zeit einen ganz herrlichen Atlas coelestis, einen Himmelsatlas, erscheinen lassen, ein riesiges und außerordentlich fleißiges Werk, das die neuesten Erkenntnisse und Berechnungen der großen und größten Astronomen zusammenfasse. Er selbst habe wohl da Buch noch nicht gesehn, doch es rühmen und preisen gehört und drei Exemplare für das Ar-marium bestellt. Nun erwarte er sie mit jedem Tag und hoffe heiß, daß die Bücher nicht irgendwo in Bayern durch die Kriegs-läufte zu Schaden kämen. Für seinen Peter kämen sie ja sicherlich noch zurecht, vor einem Jahr könne er doch selbst bei so außerordentlichem Fleiße mit den subtilen Sternkarten nichts anfangen.

Doch als sie die gewichtige Meßkunst gemeinsam durchblätterten, da und dort auch einen Absatz lasen oder gar die Beschreibung der Meßgeräte vornahmen und die Kupfer dazu, auf denen genau so, wie Peter es sich längst gewünscht hatte, jedes Instrument, jeder Meß Vorgang sauber gebildet war, kam Peter, sobald der Professor nur ein wenig Atem- schöpfte, immer wieder auf den Himmelsatlas zurück. Ob alle Sterne in diesem schönen Buche verzeichnet seien, auch die man bloß in den Winternächten erblicke, ob jeder Stern seinen Namen habe, wer diese Namen verleihe und ob man auch noch fremde unbenannte Sterne kenne, wie der gelehrte Mann aus Nürnberg die Sternbilder bezeichne und weshalb man just die auch in den Kalendern angeführten Zeichen gewählt habe? Ob er auch die Wandelsterne auf einer eigenen Karte aufgenommen oder mit den anderen Sternen zusammen gebildet habe, ob der Mann, jener Doppelmayer, die Bahn des Mondes genau wisse, auch die des Abendsterns und des Mars? Wie man überhaupt einen Stern dorthin und dahin verweise, wo auf einer Sternkarte Anfang und Ende festgelegt sei und zu welcher Nachtstunde dann die Sterne der Karte entsprechend stünden, ob es nicht auch eine große kreisende Karte gebe, eine, die den Stand der Gestirne für jede Stunde anzeige, auch für die viel geheimnisvolleren Stunden des Tages, da doch den Sternhimmel noch kein menschliches Auge erblickt habe? Und gar die Kometen,

ob es auch Karten für jene Irrsterne gebe, wie man sie abbilde, ob man die langen und kürzeren Schwänze genau zeichne, ob ein allzulanger Schweif nicht am Ende doch nur eine Einbildung der Leute sei oder ob die Kometen vor hundert und mehr Jahren größere Schweife nachgezogen hätten als in jüngster Zeit? Auf den alten Kalenderbildern stünden sie ja ganz fürchterlich am Himmel.

Der Pater antwortete anfangs nur hie und da, dann ließ er die Fragen über sich stürzen, sie taten seinem kindlichen Herzen wohl. Nach außen aber ward seine Miene immer gestrenger. Und als dem jungen Bauern am Ende doch der Atem ausging, sagte Herr von Weinhart kühl: „Was Er da wissen will, kann Ihm nicht einmal der hochgelehrte Herr Doppelmayer in einem halben Jahr erklären, zumal Seine Fragen mehr als kindisch sind und auch immerzu kindisch sein werden, bis Er sich nicht in allem Ernst bezähmt. Das wäre ja just so, als wollte ein Bauer nur ernten und nicht säen oder die Bäurin nur melken, aber ihre Küh nicht auch füttern. Die Astronomie ist keine Spielerei.“

„Ich weiß“, sagte Peter nach einer Weile, „daß es ohne die rechte Meßkunst auch am Himmel nichts zu holen gibt. Aber eigentlich bin ich ja der Sterne wegen nach Innsbruck kommen.

(Fortsetzung folgt.)

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