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Peter Anich, der STERNSUCHER

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33. Fortsetzung

Das begriff er nicht, und da er es begriff, war er doch nicht froh darüber. Ja, als er dann wieder allein über seinen Formeln saß, ertrug er die schreckhafte Stille nicht länger. Selbst der Wind war aus den Birnbäumen genommen, auch die Vögel flogen nicht mehr. Wie einer, der sich in einen verzauberten Wald gewagt hat und nun selber den Zauber spürt und sich seine Liebsten und Nächsten nicht mehr vorstellen kann, kam er sich vor. Als er sie dann draußen mit den Kühen schelten hörte, ließ er alle Rechnerei und eilte in den Stall. „Wenn ich erst wieder mit den Sternen zu tun hab, wird es besser sein“, sagte er. „Wenn du die Stern noch gern hast, ich weiß es nicht, wie damals, mein' ich.“

Sie lachte: „Warum sollt ich die Stern nicht gern haben? Macht sich der Peter nur um mich keine Sorgen. Ich weiß schon, was einer Schwester zukommt und wie sie mithelfen kann.“

An jenem Himmelfahrtstag schon zu sehr nächtlicher Stunde kam zum erstenmal der junge Hueber in den Anichhof, so wie er es Peter damals zwischen Perfuß und Kematen versprochen hatte. Weshalb er den Besuch so lange aufgeschoben hatte und just an diesem Abend zu Peter in die Einschiebt kam, war bei seinem Gestammel freilich nicht herauszubringen. Peter fragte auch weiter nicht darnach. Denn als er ihm das Rechenbuch vorlegte und die ersten Seiten herunterlas, der Blasius hätt einen halben Tag zu einer Seite gebraucht, stürzte sich der Bub mit einem Heißhunger auf die Rechnerei, als hätte er sein Lebtag sich nichts anderes gewünscht. Peter schrieb auch kaum die Rechnung an, da hörte er den Buben auch schon die Lösung sagen. Selbst Multiplikationen mit zweistelligen Zahlen machte er ohne nur hinzublicken im Kopf fix und fertig, noch ehe Peter auf dem Papier fertig war. Das war seltsam genug, und selbst die schwierigeren Rechnungen blieben für den jungen Hueber eine Spielerei.

Er kam jetzt jeden Sonntagnachmittag und auch manchen Abend unter der Woche, und nach drei Wochen hatten sie bereits die Quadratwurzel durchgenommen. Peter erschrak, sooft er an seinen merkwürdigen Schüler dachte, ganz tief erschrak er zuweilen. Dann dünkte ihn, er sitze sehr zu Unrecht jeden Samstag im Armarium, und eigentlich sollte dieser für sein Alter noch sehr viel klügere Bub dem Professor die Zeit wegstehlen und es sei seine Pflicht, Herrn von Weinhart darüber zu berichten oder den Blasius einfach nach Innsbruck mitzunehmen. Für einige Wochen kam Peter ganz gefährlich aus dem Gleichgewicht, ja er begriff selber plötzlich die einfachsten Formeln nicht mehr.

So unheimlich rasch der Bub auch die schwierigeren Rechnungen traf, mit dem Schreiben und Lesen kam er kaum vorwärts. Dafür nahm er das gedruckte Wort wie ein Evangelium hin. Er wußte das Buch seitenweise auswendig, so wie Peter es ihm vorlas, und er sagte die einzelnen Gesätze, sobald er ihrer bedurfte, in immer gleicher Wortfolge, ja im selben eingelernten Tonfall herunter, als seien sie rechtschaffene Zauberformeln. Peter konnte es nicht begründen, weshalb er sich darüber oft schrecklich ärgerte, aber er liebte den Buben seither weniger. Noch mehr verwirrte ihn jedoch eine andere Erfahrung mit dem Blasius. Ob Peter nun von den Sternen redete oder von all den schönen Dingen, die Im Armarium aufbewahrt wurden, von Erd-und Himmelskugeln und wieder von den Sternen, der Bub hörte nur sehr beiläufig zu, brachte einen blöden Witz und drängte wiederum zur Rechnerei. Auch ob die Kaiserlichen eine Schlacht verloren oder gewonnen hatten, bekümmerte ihn nicht, ob eine Finsternis bevorstand, ein neuer Komet zu erwarten war, all das, was Peter heilig war, um dessentwillen er sich durch die heillose Wirrnis der Trigonometrie hindurchfraß, erschien dem jungen Hueber wie eine fremde und in ihrer Fremdheit gar törichte Welt. Gern gab er ihn deshalb zur Zeit des Kornschnittes frei, ja er war höchst zufrieden, daß der andere auch dem Anichhause fernblieb, als die meiste und schwerste Arbeit auf den Feldern bereits getan war.

Indes ward Peter ein neuer Gefährte zugeführt in der Person des jungen Erhardt, des Nachbarn der Anichleute, eines Mannes, der, gut zehn Jahre älter als der Anichbauer, sich auch weiter nicht um die Geheimnisse der Regula de tri bekümmerte oder um den Lauf der Wandelsterne, immerhin aber mehr von der größeren und großen Welt wußte als irgendeiner im Dorf. Einziger Sohn d?s Erhardtbauern, war Franz schon vor vielen Jahren von daheim fort und in die Welt gelaufen. Die Leute sagten, er habe sich damals mit dem Vater zerstritten, der ihm den Hof nicht übergeben wollte, doch das war wohl kaum der rechte Grund. Peter hatte als Bub mit dem so viel älteren Nachbarbuben kaum verkehrt, war auch von dem hochfahrenden Bürschchen kaum einer Kameradschaft für würdig befunden worden. Später hörten sie dann hie und da etwas über ihn, daß er sich in Innsbruck, in München, auch in Wien mit gelegentlichen Arbeiten durchbrachte; dann wieder hieß es, er habe sich bei den Dragonern anwerben lassen, die Feldzüge gegen Preußen wacker mitgefochten und habe dabei die linke Hand eingebüßt. Sie hatten aber auch diese Botschaften hingenommen, wie man eben das Schicksal eines gänzlich fremden Mensdien vernimmt und leicht vergißt. Sein Vater, der nun weit über siebzig Jahre alte Bauer, hatte ja gleichfalls seit dem Tode des Anich-vaters den nachbarlichen Hof nicht mehr betreten, ja sich mit den Jahren zu einem höchst verbissenen und unguten Nachbarn entwickelt.

Im Oktober, zu Theres, kam nun der alte Erhardt bei einer Heufuhr ums Leben. Die Leute sagten, dieser jähe und allen Umständen nach sehr unnötige Tod sei die gerechte Strafe für den habsüchtigen Greis. Peter und Leni halfen der alten Bäuerin über die ersten sdiweren Tage in Stall und Feld hinweg. Auch den Türken banden die beiden an die Hauswand. Erst gegen Allerheiligen hin fanden sich auch andere Nachbarn ein, aber da kam auch schon der Franz heim und früher, als einer es erwartet hatte. Als ein gar stattlicher Mann kam er heim, der stattlichste in ganz Oberperfuß. Es fehlte ihm auch nicht die linke Hand, sondern bloß der Mittelfinger daran, audi war er in den letzten Jahren nicht Dragoner gewesen, sondern Regimentsschreiber und zeitweise Fou-ragemeister. Sein hartgeschnittenes Gesicht und der mächtige Schnauzer darin ließen ihn so recht als einen Herrn erscheinen. Er nahm denn auch den ftof sogleich fest in die Hand. Eine neue Scheuer entstand, ein mächtiger, verbesserter Flachsdörrofen neben der Scheuer. Dabei legte er wohl selber mit Hand an, hatte aber auch für jeden, der vorüberkam, ein Viertelstündchen übrig und täglich einen geraumen Feierabend dazu, sei es, daß er nun flinker und geschickter war als die anderen Bauern oder daß die Handwerker und Knechte lieber für ihn werkten, weil ihm das Geld lockerer in der Tasche saß, oder bloß, weil er eben nicht mehr hochfahrend und spöttisch sich aufführte wie in jungen Jahren und so recht ein kluger, welterfahrener und umgänglicher Mann geworden war.

Bereits am Tag nach seiner Ankunft sprach Franz im Anichhofe vor und dankte der Anichmutter, aber auch den jungen Leuten für die seiner verwitweten Mutter erwiesene nachbarliche Hilfe. Er tat dies mit so viel Anstand und so warmem Herzen,daß die Anichleute nach seinem Weggang etwas wie eine große Erleichterung spürten, so als liege ihr Hof plötzlich nicht mehr arg in der Einschiebt, oder gar als sei ein lieber, bisher unbekannter Freund aus der Fremde heimgekehrt. Auch seine nächsten Besuche stimmten sie fröhlich, und er kam nun jeden Sonntag nach der Messe, später auch an den Nachmittagen und an regnerischen Tagen oft auch während der Woche. Es geschah sogar nicht selten, daß er seine Jause oder das Nachtmahl am Anichtisch verzehrte, und daß seine Leute ihn erst rufen mußten, wenn sie seiner bedurften.

Peter schienen auch die Stunden, die er mit ihm verbrachte, nicht verloren. Angeregt und heiter ging er hernach wieder an die Arbeit, und Aufgaben, an die er früher Stunden verwandt hatte, lösten sich nun spielerisch von selbst. Er konnte aber auch leichteren Herzens an Leni denken, denn das Mädchen sang wieder, wenn es allein war, und bekam eine frischere Farbe auf die Wangen, und selbst die Anichmutter ging bald wie eine Junge im Hause um. Dabei redeten sie nicht bloß von der Wirtschaft oder von den neuen dörflichen Dingen und von den alten, die während seiner Fremdzeit vorgefallen waren. Franz bekümmerte sich auch um all die Bücher und Instrumente, mit denen Peter umging, und wenn er auch wenig davon begriff, so sprach er von der Trigonometrie und von den Quadranten und Astrolabien wie von achtbaren und sehr nützlichen Dingen, lobte den Professor, der all dies wußte und so bereitwillig und ohne Geld lehrte, und noch mehr Peter selbst, der aus eigenem den Weg nach Innsbruck gewagt hatte, und erzählte zwischendurch aus seiner Soldatenzeit und von all den Ländern und Leuten, die er weitum in deutschen Landen kennengelernt hatte.

In jenen Tagen schlugen die in detv pragmatischen Armee vereinigten Verbündeten der Kaiserin unter dem Befehl des Königs von England die Franzosen bei Dettingen am Main. Die freudige Botschaft war just an einem Samstag nach Innsbruck gelangt, und Herr von Weinhart schickte nicht bloß seine Studenten sogleich heim, er feierte mit Peter zusammen den Sieg auch auf eine sehr ernsthafte und nachdrückliche Art. Logarithmen und Trigonometrie und Meßkunst blieben an jenem Vormittag unberührt, dafür schleppte der Professor den Homman-nischen Atlas herbei, alle sechs Folianten, und zeigte Peter, wo nun Dettingen lag, dieses bisher unbekannte, nun aber gefeierte und mit Glocken und Fahnen gepriesene Dorf. Dann aber nahmen sie auch die Gegend rundum vor und ergingen sich in Vermutungen, wohin die siegreiche Armee nun vorstoßen werde, besahen auch die Karten, auf denen Germania spezialis, das gesamte Deutschland mit seinen Kreisen, Kur- und Fürstentümern abgebildet war, samt all den Prospekten und Grundrissen der vornehmlichsten Städte, und lasen auch einige Seiten aus dem Vorworte.

Peter erschien dieser Atlas als ein ganz ungeheuerliches Buch. Er schlug bei jeder neuen Karte die Hände zusammen, er riß Augen und Mund auf und jubelte und schwieg Vor so viel Fülle und Genauigkeit und Schönheit und vor der Größe der Welt. Am liebsten hätte er auch alle ferneren und fernsten Erdteile durchstöbert und keinen Prospekt ausgelassen, keinen der kunstvollen Stiche, wie sie jedes Land irgendwo am Rande in Gestalten und Geräten und Verrichtungen vorstellten, ja der Pater hatte seine gute Mühe mit ihm, daß er ihn bei den Blättern des Heiligen Römischen Reiches verweilen hieß. Doch als sie dann an die Karte gerieten, auf der auch die Grafschaft Tirol verzeichnet war: „Comitatus prinzi-palis Tirolensis“ und er nun mit Eifer und schon besserem Verständnis sich über das Tiroler Land hermachte, ward er dodi plötzlich sehr still. „Der Innfluß ist wohl richtig eingezeichnet“, sagte er, „wenigstens soweit ich das Stück zwischen Unterperfuß und Innsbruck kenne, doch das Gebirg!“ Er rückte die Karte dem Pater vor die Augen, „merkst du da ein Gebirg? Sollen die paar Hügelchen unsere Berge sein, und alles andere nur bergloses Land wie irgendwo in Bayern draußen? Just daß er nicht Oberperfuß vergessen hat, der Herr Kartenzeichner, Kematen hat er auch vergessen. Ich getraute mir keine solche Karte zu drucken“, setzte er nadi einer Weile hinzu, „der Mann war doch niemals in seinem Leben in Tirol.“

Das sei denn auch allzuviel von einem Kartenstecher verlangt, sagte der Professor, er habe ja doch auch Afrika und Südamerika in seinen Atlas aufgenommen und gar das neuentdeckte Neuholland, von dem kein Mensch wisse, wie es nach Osten verlaufe. Doch in einem habe Peter völlig recht, die Karte von Tirol sei unter allen deutschen Karten die schlechteste. Dafür aber trage nicht Herr Hommann und auch nicht sein Stecher die Sdiuld, sondern das Land selbst, weil es eben noch keine bessere Karte hervorgebracht habe, keine, nach der ein rechter und erfahrener Geograph haargenau arbeiten könne. Immerhin hätten es aber auch die Bayern oder die innerösterreichischen Länder und gar die norddeutschen mit ihren Ebenen und Hügeln leichter als die Tiroler samt ihren Bergen, die ja kaum noch ein Hirte betreten, geschweige ein Landmesser auch richtig vermessen habe. Deshalb braudie man, aber nirgendwo mehr und bessere Landmesser als in Tirol, und die Arbeit des Freiherrn von Sperges an der venedischen Grenze sei wohl sehr verdienstlich und verspreche auch ein schönes Werk für die Zukunft, sie genüge aber durchaus nicht, denn ein einzelner Mensch, und sei er der fleißigste und rüstigste, könne doch alle die Tiroler Berge und Gletscher kaum in seinem Leben absteigen, gesdiweige denn vermessen und mappieren.

Peter nickte lebhaft. Doch mehr sagte der Pater diesmal, schon des festlichen Tages wegen nicht. Auch schien ihm der Ehrgeiz seines Schützlings genugsam und auf das rechte Ziel hin geweckt. t

Die Kunde von der siegreichen Bataille machte einen anderen Menschen aus dem Erhardtbauern. Stundenlang saß er jetzt im Anidihaus, oder er lief mit Peter und Leni auf die Heuwiesen, und seine Gedanken waren gar nicht mehr daheim, sondern immer draußen beim Regiment, bei den Offizieren und Kameraden, die er jetzt schon weit in Frankreich drinnen glaubte, auf der geraden Straße gegen Paris. In diese Stadt aber wäre er für sein Leben gern mit eingezogen.

Fürs erste behielt seine kühne Zuversicht auch recht. Peter brachte bald eine noch erfreulichere Kundschaft heim. Sardinien und Piemont hatten sich der Kaiserin angeschlossen. Und wenn man dies neue Bündnis als einen Anfang noch gewichtiger nahm, dann durfte der Franz schon einen Krug guten Weines aufmarschieren lassen, und er tat es noch am nämlichen Tag. Wen, ja wen, der über Verstand, Mut und eine gerade Hand verfügte, modite es nun noch daheim leiden? Paris lockte, die Insel Sardinien, das blaue Meer, vielleicht auch Venedig oder Rom. Das gab einen rechten Auslauf, meinte der Ehrhardt, für einen unternehmenden Mann wie den Anidibauern. Überhaupt sei es ganz gleich, wohin einer laufe, die Welt sei groß und die Fremde immer schön, und der Herrgott führe den, der sich an seine Hand begebe, zu anderen Leuten, zu anderen Sitten, immer schön straßauf, straßab. Wie aus einem heilkräftigen Bade kam einer dann heim, stark, frisch.. Gar für einen künftigen Landmesser und Kartenmacher gebe es kein nützlicheres und schöneres Tun. Sie stiegen aber dabei, vom edlen Wein allzusehr befeuert, auf das Rangger Köpfel die breiten Halden hinan, und die Berge standen höchst feierlich im klaren Nachmittagshimmel.

„Wenn der Vater noch lebte und ich um zehn Jahr jünger war, tat ich es dir leicht nachmachen“, sagte Peter, als sie später bei einer Heuhütte verschnauften. „Aber auch dann müßt ich mit dem Lernen fertig sein, wenigstens mit der Trigonometrie.“

(Fortsetzung folgt.)

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