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Rilkes „Sämtliche Werke“

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Es ist kein verlegerisches Wagnis mehr, die sämtlichen Werke Rainer Maria Rilkes in fünf Dünndruckbänden herauszugeben, denn Rilke gehört nicht nur schon längst zu den großen Erfolgsautoren de Insel-Verlages, sondern er ist auch der, dessen Ruhm sich konsolidiert hat. Das kann man nicht Von allen Halbgöttern des literarischen Olymps der ersten Jahrhunderthälfte behaupten. Wie rasch ist Wassermann nach seinem Tode in Vergessenheit geraten, wie mühsam ist es geworden, das Interesse für Stefan George zu erhalten, wie schattenhaft sind schon Mombert, Schnitzlcr, Dehmel und Wedekind, wie außer Kurs geraten Derleth, und wie peinlich wirken die manchmal oft verzweifelten Anstrengungen interessierter Kreise, einer verblichenen Größe der Voroder Zwischenkriegszeit noch ein wenig Glanz zurückzugeben. Von Rilke aber ist nichts dergleichen zu sagen. Sein Ruhm ist nicht zurückgegangen, sondern.er wächst von Jahr zu Jahr, und der Mann, über den in einer Literaturgeschichte von 1918 noch zu lesen war: „Sein Erkennungszeichen ist ein sanftes musikalisches Lallen“, hat seit einigen Jahren Welt-nihm erreicht. Er wird nicht nur noch immer gelesen, obwohl er schon vor dreißig Jahren starb und nach so langer Zeit die Regel anders aussieht; seine Werke sind nicht nur in bald zwei Dutzend Kultur-spracheri übersetzt (es gibt sogar Uebersetzungen ins Bretonische, Friesische, Lettische und Portugiesische, was angesichts der notorischen Schwerübersetzbarkeit Rilkescher Lyrik und Prosa etwas zu bedeuten hat), sondern es wird auch noch immer fast zuviel über ihn geschrieben. (Die 1952 erschienene Rilke-Biblio-phie von Walter Ritzer umfaßte schon 328 Seiten.) Sein Ansehen ist unbezweifelbar geworden. Für wie lange, das weiß kein Mensch, denn mit dem Ruhm ist es wie mit dem Wetter, er ist ebenso unberechenbar und launisch und ein ebenso komplexes Gebilde. Aber vorläufig- ist sein Ende noch nicht abzusehen, es wäre höchstens zu sagen, daß nun sein Mythos im Abbau begriffen erscheint und daß Rilke nach einer Zeit fast kritikloser Bewunderung (als Mensch' und als Dichter) in die kritische Zerreißprobe zu geraten droht. Wie er daraus hervorgeht, kann man nicht sagen. Doktoranden aber haben noch immer Hunger nach ihm, und die Flut der Rilke-Dissertationen ist nur unmerklich zurückgegangen, lieber Mangel zu klagen besteht also kein Grund, wir leiden viel eher an einem Zuviel.

Was aber doch noch immer fehlte, war eine ausreichende und fundierte Gesamtausgabe seiner Werke. Es gab zwar die 1927 erschienenen „Gesammelten Werke“ in sechs Bänden und die 1938 herausgegebenen „Ausgewählten Werke“ in zwei Bänden, und es gab unzählige Auswahlen, Teilsammlungen und Einzelschriften, aber all das war ziemlich fragmentarisch und begnügte sich mit unbereinigten Texten, blieb ohne Datierung, ohne chronologischen Verlauf, und der Nachlaß bestand aus einem manchmal fast wirren Haufen ungeordneten Materials. Mit der Zeit mußte dieser Zustand unbefriedigend werden. Man blieb zu sehr auf - Mutmaßungen angewiesen, auf Kombinationen, auf ein manchmal abenteuerliches Experimentieren mit Zusammenhängen, die ungesichert bleiben mußten, weil die genauen Entstehungsdaten fehlten. Im Band der „Späten Gedichte“ beispielsweise fand“ man solche schon aus den Jahren 1913 und 1914, unmittelbar vor anderen von 1923 oder 1924. Es war also wirklich an der Zeit, in das Durcheinander Ordnung zu bringen und auch eine Ausgabe zu schaffen, die endlich eine einheitliche Zitation erlaubte. Die Textverderbnis, das zeigt sich jetzt, war nicht so schlimm wie in anderen Fällen, obwohl nun auch Kuriosa zum Vorschein kommen, aber sie scheinen die Interpretationen nicht sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, weil sie sich auf Nebensächlichkeiten beschränken. Dagegen stand man bisher vor dem Frühwerk ziemlich ratlos, weil man meistens nur noch Ausgaben erhalten konnte, die zu vermehrten und verbesserten Neuauflagen gehörten oder sehr frühe Bücher Rilkes überhaupt nicht mehr erhältlich waren, sie waren Rarissima geworden und eifersüchtig gehütete Einzelexemplare von Sammlern. Daß eine1 historisch-kritische Ausgabe zur Zeit noch nicht möglich ist, darüber war man im klaren, aber man wünschte endlich eine umfassende und sorgsam redigierte Ausgabe sämtlicher Werke, und dieser Wunsch wird nun erfüllt. Er beginnt auf jeden Fall erfüllt zu werden, denn ein erster Band dieser Ausgabe ist bereits erschienen und es ist zu hoffen, daß die anderen nicht allzulange auf sich warten lassen.

Vor uns liegt nun der Gedichte erster Teil, umfassend die „Ersten Gedichte“, die „Frühen Gedichte“, „Die weiße Fürstin“, die „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, das „Stundenbuch“, das „Buch der Bilder“, der „Neuen Gedichte“ erster und anderer Teil, „Requiem“, „Marienleben“, „Duineser Elegien“ und „Sonette an Orpheus“. Ein zweiter Band soll die „Gedichte aus dem Nachlaß des Grafen C..W-“ enthalten, den „Briefwechsel in Gedichten mit Erika Mitterer“, die Gedichte von 1906—1926, die Gedichte in französischer Sprache und den lyrischen Nachlaß. Ein dritter Band wird die Jugendgedichte umfassen, die Frühwerke in ursprünglicher Gestalt, weiteren Nachlaß und Einzelgedichte, während der vierte und fünfte Band erzählende und kritische Schriften sowie Dramatisches enthalten soll.

Das ist ein ziemlich umfassendes Programm. Es Ist aber gleich beizufügen, daß die Briefe in dieser Ausgabe außer Betracht bleiben; sie gehören nach der Meinung der Herausgeber nicht zum „Werk“. Darüber kann man natürlich verschiedener Meinung sein, denn es gibt Briefe, die zweifellos zum „Werk“ gehören, und Gedichte (wie die für Erika Mitterer), die zu einem Briefwechsel in Versen gehörten. Aber solche Ueberschneidungen gibt es immer, und wenn später die Riesenmasse der Briefe ebenfalls in einer neuen und endgültigen Sammlung vorliegt, dann werden alle zufrieden sein, und dann wird jeder das Seine haben.

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