Shichirō Fukazawa: Eine archaische Gesellschaft und ihre Rituale

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„Die Narayama-­Lieder“ – eine Perle japanischer Literatur wurde zum ersten Mal aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen.

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„Die Narayama-­Lieder“ – eine Perle japanischer Literatur wurde zum ersten Mal aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen.

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Bei uns weiß mit dem Namen Shichirō Fukazawa (1914–1987) kaum jemand etwas anzufangen. In Japan wird der Autor bewundert wegen seiner Eigenart, die ihn zu seinen Zeitgenossen in der Literatur auf Abstand gehen ließ. Als er im Alter von 42 Jahren den Roman „Die Narayama-­Lieder“ veröffentlichte, überraschte er als Unbekannter die Öffentlichkeit. Bislang hatte er als Gitarrenspieler einige Aufmerksamkeit erregt, und dann legte er ein Werk vor, das sogleich mit Preisen bedacht wurde. Im Deutschen macht der Text kaum 80 Seiten aus. Das üppig ausladende Erzählen ist Fukazawas Sache nicht. Trotz der Anerkennungen, die ihm zuteil wurden, stand er als Nicht-Intellektueller am Rande des Literaturbetriebs, den er gerne mied. Wichtig waren ihm das Stück Ackerland, das er bebaute, und ein Straßenladen in Tokio.

Das schmale Buch wirkt, als wäre es aus einer fernen Zeit in die Gegenwart gelangt. Die Welt ist archaisch, die Menschen im kleinen Bergdorf unterwerfen sich drastischen Regeln, der Tonfall ist angelehnt an jenen von Märchen und Mythen. Von einem Alltagsrealismus ist dieser Text weit entfernt. Wir befinden uns in einer kargen Welt, in der die Ressourcen derart knapp sind, dass die Alten auf einen Berg geschickt werden, wo sie einen einsamen Tod sterben. Überhaupt stehen die Leute unter Zwängen, die ihnen die Not auferlegt. Die ­Beschränkung gehört zum Normalleben, die Ansprüche sind gering, dass die Natur viel abwirft, ist nicht zu erwarten. Die Bewohner üben sich in Zurücknahme, ihre ganze Gesellschaft gründet auf diesem Übereinkommen.

Das Buch liest sich bei all der Fremdheit, die über Form und Sprache verstärkt werden, auf eine unheimliche Weise gegenwärtig. Dass eine Überflussgesellschaft in eine Zeit des Mangels stürzen könnte, ist nicht länger abwegig. Und die Idee des Senizids, der Tötung von Alten, die zur Belastung werden könnten, ist auch kein Motiv, das sich als belanglos auf die Seite schieben ließe.

Im Jahr 1961 bewirkt eine von Fukazawas Erzählungen einen Skandal. In einem Traum bricht eine Revolution aus, der die Kaiserfamilie zum Opfer fällt. Ein Sakrileg in einer obrigkeitshörigen Kultur. Ein Rechtsradikaler stürmt den Verlag, ermordet ein Dienstmädchen und verletzt die Frau des Herausgebers. Die Reaktion darauf? Der Verlag entschuldigt sich, das Buch veröffentlicht zu haben, Fukazawa begibt sich, um sich selbst aus der Schusslinie zu nehmen, ein Jahr lang auf Reisen.

Diese Perle japanischer Literatur wurde das erste Mal aus dem Japanischen ins Deutsche übertragen – die erste entstand 1964 nach der französischen Übersetzung –, vorzüglich obendrein.

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