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TANGARONG

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In den scheinbar glücklichen Jahren, die der Niederwerfung Napoleons folgten, machte sich eine sonderbare Veränderung im Wesen des Zaren Alexander I. bemerkbar. Inmitten des Glanzes, der den Zaren als den um diese Zeit wohl mächtigsten Mann der Erde umgab, ließ er dann und wann ein Wort fallen, das Uneingeweihte betroffen machte. Eine sonderbare Müdigkeit, Verlangen nach einer großen, ganz entlegenen Ferne, eine tiefe Trauer dämmerte aus solchen Worten herauf. Es war kaum möglich, auf sie zu antworten; wer es doch versuchte, stand plötzlich wieder dem Selbstherrscher gegenüber, der, ungeachtet so vieler seine Erscheinung verschleiernder Legenden, die gewaltige Macht seines Landes mit fester Hand und kühlen, auf die Weite der Welt gerichteten Blicken verwaltete. Überraschende unglückliche Ereignisse schienen zu dieser Veränderung beizutragen. Einmal, bei einer der großen Paraden, die der Kaiser mit leidenschaftlicher Hingabe zu halten pflegte, hatte ein Adjutant das Unglück, daß sein Pferd scheute, während er dem Zaren einen Bericht erstattete. Der Offizier war mit Rücksicht auf die bekannte, jedoch ungern eingestandene Schwerhörigkeit des Herrschers scharf an diesen herangeritten; Alexander wurde von einem Hufschlag am Bein getroffen; zwar ließ er sich den Schmerz nicht anmerken, aber es suchte ihn von da an ein sich bald steigerndes, bald abschwächendes Leiden heim, das sehr schmerzhaft gewesen sein muß. Es wurde sogar davon gesprochen, daß das verletzte Bein abgenommen werden müsse; der ganze Körper sei von den Folgen der Verletzung ergriffen worden. Indessen behauptete sich der Zar unter der Last seiner Aufgaben, in den schroffen Gegensätzen seines Daseins. Er wendete täglich zwei Stunden auf, um die aus allen Teilen seines Reiches einlaufenden Bittschriften mit seinen Sekretären durchzuarbeiten; an ihnen meinte er, wie er seinen Mitarbeitern gelegentlich andeutete, die Stimmung und geheime Erregung, die Not oder unbestimmte Erwartung seines Volkes am besten ablesen zu können. Gerade in dieser Zeit häuften sich die Gesuche, und er verheimlichte die Bedenken nicht ganz, die sie in ihm wachriefen. Unter allen seinen Geschäften lebte er einsam; immer seltener strahlten die Festsäle der Schlösser auf, fast nie mehr besuchte er die Oper; er zog sich früh zurück. „Schlaf bringt Vergessen”, sagte er dann wohl, doch war es seinen Worten anzumerken, daß er keinen Schlaf erwartete. Inmitten prunkvoller Räume beanspruchte er ein mit Leder bezogenes Feldbett ohne Vorhang und Laken; unter seinem Fenster auf dem weiten kahlen Platze spielte die Militärkapelle noch eine Weile die Melodien, die ex wünschte. Es waren schwermütige Weisen, wie sie das Volk gefunden hatte für seine Trauer und sein Schicksal, und er mochte wohl hoffen, bei solchen Klängen, die gleichsam die Seele einhüllten und einer dunklen Strömung übergaben, leichter einzuschlafen. Nichts störte die peinliche Ordnung seiner Stunden, seines ganzen arbeitsreichen Lebens, dessen genaues Abbild die untadelhafte Ordnung auf seinem Schreibtisch war; er duldete auf ihm keine Spur der geleisteten Arbeit.

Um diese Zeit wurde sein Leben wieder erhellt durch die Ankunft eines jungen Mädchens von zauberhafter Schönheit. Es war kein Geheimnis, daß Sophie Naryschkin Alexanders Tochter aus einer ebenso unglücklichen wie leidenschaftlichen Verbindung war; ihre Mutter war gestorben, Alexander hatte die Tochter in der Sorge um ihre zarte Gesundheit längere Zeit in Paris leben lassen. Da sie zurückkehrte, entfaltete sich ihre Schönheit rasch unter der Gewalt der Liebe zu einem jungen Adligen, der Alexander nichts entgegenzustillen wagte. Lange war Sophie wie zögernd zwischen Kindheit und Jugend gestanden; niun strebten alle ihre Kräfte einem großen, erfüllten Leben zu. Einmal begegnete sie, wie erzählt wurde, der Zarin im Park von Zarskoje Selo; sie sank erglühend zur Erde, aber Elisabeth Alexewna eilte auf sie zu und schloß sie in ihre Arme: „Oh, ich weiß, wer du bist! Ich erkenne in dir den Engel, den ich liebe!” Da, wieder während einer Truppenschau, traf den Zaren ein Schlag, der noch schwerer war als der erste: Sophie war plötzlich an den Folgen eines Blut- sturzes gestorben. Tödliche Blässe überflog das Gesicht des Zaren, während er die Nachricht empfing. „Dies ist die Strafe für meine Sünden”, sagte er, ohne Rücksicht auf seine Umgebung. Dann zwang er sich, den blitzenden, zuckenden Reihen seiner Krieger die erwarteten Befehle zu geben. Erschöpft ritt er vom Platz, während hinter ihm der Marschtritt der gewaltigen Heeresmasse verhallte. Mit äußerster Anstrengung verschwieg er auch seinen Vertrauten seinen Schmerz; nur das Grabmal, das er auf dem Friedhof des Klosters der heiligen Dreifaltigkeit für Sophie errichten ließ, mochte Zeuge seiner Tränen und heftigen Selbstvorwürfe sein.

Der späte Herbst brachte über Petersburg ein Unglück, dessengleichen die Stadt lange nicht gesehen hatte. Viele Tage lang drückte der Westwind auf die Mündung der Newa; er wälzte die Meeresflut landeinwärts über die Felder und in die Gassen der Stadt; die Plätze verwandelten sich in Seen, die Straßen in träge schlammige Flüsse. Längst schon waren die zahlreichen Brücken, die über die Kanäle führten, in der Flut verschwunden, und noch immer zeigten Kanonenschläge das Steigen des Wassers an. Als der Zar auf dem Balkon über dem Flusse erschien, riefen ihn die Menschen von weit entfernten Fenstern und Dächern um Hilfe an. Unbekümmert um den feuchten, gleichmäßig forttosenden Wind, leise das unbedeckte Haupt schüttelnd, sah er auf die schmutzigen Wellen nieder, auf denen Schiffstrümmer trieben. „Der Fluß kommt zurück”, sagte er vor sich hin. Das volle Gesicht des noch nicht Fünfzigjährigen, das so lange den Schimmer der Jugend bewahrt hatte, wurde von einem Schatten von Greisenhaftigkeit verdüstert, als sollte seine Jugend unmittelbar in müdes Alter übergehen. „Wie lange ist es her”, fragte er den General Bennigsen, der hochaufgerichtet hinter ihm stand, „seit ©in derartiges Unglück die Stadt heimgesucht hat?” — Es werden fast fünfzig Jahre sein.” — „Ich weiß; damals ertrank die Prinzessin Tara- kanow ln ihrem Kerker in der Schlüsselburg. Es war das Jahr meiner Geburt.” Bennigsens verschlossenes Gesicht bewegte sich nicht. Wieder beugte sich der Zar über das Geländer. Nun trieb ein hölzernes Kreuz den Strom herauf, dem Palast zu; es streifte an der Mauer hin und blieb schräg unter dem Balkon liegen; deutlich war es zu hören, wie der Längsbalken an die Mauer schlug. — Als der Wind sich endlich gedreht hatte und die Flut sich verlief, durchritt Alexander die Stadt, um die nötigen Anweisungen zur Behebung der Not zu geben. Dann wandte er sich den Feldern am Flusse zu und ritt bald rascher, angezogen von einem sonderbaren Umriß, der sich am Rand der Ebene in den Abendhimmel hob. Es war ein Kauffahrer; die Wellen hatten ihn aufs Land getragen und dort zurückgelassen. So lag das Schiff auf der Seite, verlassen von seiner Mannschaft, die vielleicht in der Ferne ertrunken war; an den schrägstehenden Masten hingen die morschen, gebleichten Reste zerfetzter Segel. „Die Fahrt ist zu Ende”, sagte Alexander, nachdem er lange vor dem Wrack gehalten hatte, zu seinem Adjutanten, dem General Die- bitsch… „Es ist erschütternd, welche Bilder der Herr vor uns aufrichtet”, fügte er nach einer Weile hinzu. Da er die Antworten seiner Begleiter oft nicht verstand, aber auch nicht um sie fragen wollte, sprach er gerne mit sich selbst.

Seit Sophie gestorben war, suchte der Zar wieder einige Adelshäuser auf wie in früheren Jahren. Wo man glaubte, ihm Gesellschaften bieten zu müssen, zog er sich rasch zurück; ließ man ihn aber, in dem Abstand, den er forderte, am geordneten Dasein einer Familie für eine Stunde teilnehfnen, so schien er sich glücklich zu fühlen. Er saß dann, vom Tische etwas entfernt, in dem bereitgestellten Sessel, den Gesprächen zuhörend oder seinen Gedanken nachhän- ‘gend. Dämmrige Zimmer waren ihm die liebsten; er bat, daß man die Kerzen abblende. In unregelmäßigen Abständen kam er wieder; dann blieb er ganz aus. Damals wurde es bekannt, daß die Zarin schwer erkrankt sei; nie hatte sie, die badische Fürstentochter, im Petersburger Winter die Milde ihrer Heimat verschmerzen können, wenn auch nur selten eine Klage über ihre Lippen kam. Nun hieß es, daß für sie nur Hoffnung sei, sofern si sich für ein südliches Klima entscheide. Einige rieten zu ihrer Heimat, andere zu Italien, wieder andere, denen die Sinnesart der Fürstin schon besser bekannt war, zur Krim. Dann verbreitete sich die Nachricht, daß die Wahl auf Taganrog gefallen sei. Man mußte sich mühsam daran erinnern, daß Katharina II. in ihrem Briefwechsel mit Voltaire das Klima der kleinen Stadt am Asowschen Meer gerühmt hatte und ihr Voltaire darauf seine Absicht versicherte, sich in einer Sänfte nach Taganrog tragen zu lassen — falls er nicht doch das gewiß mildere Klima ihres Hofes vorzöge; es war eine verfehlte oder doch überholte, schon lange verödende Gründung Peters des Großen, der von dort aus einmal die Flotte Rußlands in das Schwarze Meer hinaussenden wollte, im Grunde, wie man doppelsinnig sagte, eine Strafkolonie. Aber der Spott verwandelte sich in Erstaunen, als der Hof erfuhr, daß auch der Zar nach Taganrog reisen, ja sogar der Gattin vorauseilen werde. (Fortsetzung folgt)

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