Thomas Wolfe: "Eine Deutschlandreise"
Anton Thuswaldner über Wolfes literarische Zeitbilder: eine Geschichte von Zuneigung und Abstoßung.
Anton Thuswaldner über Wolfes literarische Zeitbilder: eine Geschichte von Zuneigung und Abstoßung.
In der kurzen Zeit, die er zur Verfügung hatte, gelang es Thomas Wolfe (1900–1938), sich den Ruf eines Giganten der amerikanischen Literatur zuzulegen. Bis heute zieht sein Roman „Schau heimwärts, Engel!“ die unterschiedlichsten literarischen Temperamente von Peter Handke bis Michael Köhlmeier in seinen Bann. Dieser Roman überschattet alles, was er sonst noch geschrieben hat, umso verdienst voller ist es, dass uns nun Wolfes Deutschlandtexte – Erzählungen, Briefe, Tagebuchaufzeichnungen – zugänglich gemacht wurden. Denn mit Deutschland hatte es eine besondere Bewandtnis bei Wolfe: Sein Herz hing an der Landschaft und den Menschen, und dennoch blieb seine Liebe nicht blind.
In sechs Reisen zwischen 1926 und 1936 erkundete er Deutschland, insgesamt hielt er sich acht Monate dort auf. Seine Liebe zu den Geistesgrößen und die Anschauung des realen Landes ließen sich nicht unbedingt in Deckung bringen. Deshalb entsteht ein sehr ambivalentes Deutschlandbild, das sich unter dem Eindruck der Naziherrschaft zunehmend verdüstert. „Der rasierte Schädel eines Hunnen scheint oberhalb seines Nackens abgesägt und passgenau aufgesetzt worden zu sein, der gezahnten Speckfalten wegen.“ So sieht eine frühe ernüchternde Beobachtung aus, die an anderer Stelle revidiert wird: „die Menschen sind, glaube ich, schlicht, ehrlicher und sehr viel freundlicher als die Franzosen“. Und doch fallen ihm gleichzeitig Studenten aus schlagenden Verbindungen unangenehm auf: „Der Säbel schneidet in ihre Gesichter – Wangenknochen, normalerweise – Nasenwunde.“ Die Kombination der unterschiedlichen Textsorten bringt mit sich, dass wir kein geglättetes Urteil vorfinden.
Wir sehen einen interessierten Menschen, der widersprüchliche Eindrücke sammelt und jederzeit bereit ist, seine Vorstellung von Land und Leuten zu revidieren. Gerade aus den Aufzeichnungen, die das Material abgeben für spätere abgerundete Einsichten, lässt sich herauslesen, wie sich aus zahlreichen Details eine Sozialgeschichte der Deutschen herausbildet. Welche Bücher stehen in Buchhandlungen („Unmengen von Reiseführern und Landkarten – Die Deutschen lieben Statistiken“), das aufgeregte Verhalten der Zeugen nach einem Unfall, Besuch der Aufführung eines HauptmannStückes („eine sehr fade Komödie“), eine Rheinschifffahrt. Der Blick des Fremden zwingt zum Staunen über alles, was den Deutschen selbstverständlich, weil alltäglich ist. Aus dem wohlwollenden Besucher wird am Ende ein Verächter. Aber das ist im Jahr 1936 eine politische Geschichte.
Der Autor ist Literaturkritiker.
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