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Tiefenpsydiologisciie Produktionen

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Vom 8. bis 31. März 1955 veranstalte ich gemeinsam mit der „Wiener Secession, Vereinigung bildender Künstler“ in den Räumen der Wiener Secession eine Ausstellung unter dem Titel „Tiefenpsychologische Produktionen“. Bei der Planung dieser Schau dachte ich auch daran, einen Katalog drucken zu lassen, in dem ich eine Einführung in die wissenschaftliche und künstlerische Problematik der gezeigten Bilder bringen wollte. Gemeinsam mit der Wiener Secession, die sich in dankenswerter Weise um das Zustandekommen der Ausstellung bemühte, bewarb ich mich um eine Subvention beim Bundesministerium für Unterricht. Liebenswürdigerweise wurde dem Ersuchen stattgegeben, doch war es trotz dieser Zuwendung unmöglich, einen Katalog herzustellen, da dessen Kosten weit über unsere Möglichkeiten gestanden wären. Nun ist aber gerade diese Ausstellung so geartet, daß eine authentische Stellungnahme des Initiators höchst angebracht erscheint, da die dabei aufgerollte Problematik sehr kompliziert ist und Fehlinterpretationen sehr nahe liegen. Insofern ist es gefährlich, sich nur auf die Berichterstattung der Presse zu verlassen, da gerade hier auch geringe Abweichungen schon weittragende Folgen haben können. Unter diesen Umständen kann in der Ausstellung eine mir völlig fernliegende feindliche Absicht gegen die moderne Kunst erblickt werden, und so halte ich es um so mehr für angezeigt, eine Einfühlung zu schreiben, die meine eigene Meinung eindeutig festlegt. Der Besucher soll die Möglichkeit erhalten, sich in dieser Richtung zu orientieren. Vor die Unmöglichkeit einer Herausgabe eines Katalogs gestellt, kam mir die Idee, ein geeignetes Blatt zu bitten, den geplanten Katalogtext abzudrucken. Nun bin ich der Redaktion der „Furche“ zu Dank verpflichtet, daß sie meiner Bitte nachkam und Raum zur Veröffentlichung dieses Artikels zur Verfügung stellte. Der Autor

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Vom 8. bis 31. März 1955 veranstalte ich gemeinsam mit der „Wiener Secession, Vereinigung bildender Künstler“ in den Räumen der Wiener Secession eine Ausstellung unter dem Titel „Tiefenpsychologische Produktionen“. Bei der Planung dieser Schau dachte ich auch daran, einen Katalog drucken zu lassen, in dem ich eine Einführung in die wissenschaftliche und künstlerische Problematik der gezeigten Bilder bringen wollte. Gemeinsam mit der Wiener Secession, die sich in dankenswerter Weise um das Zustandekommen der Ausstellung bemühte, bewarb ich mich um eine Subvention beim Bundesministerium für Unterricht. Liebenswürdigerweise wurde dem Ersuchen stattgegeben, doch war es trotz dieser Zuwendung unmöglich, einen Katalog herzustellen, da dessen Kosten weit über unsere Möglichkeiten gestanden wären. Nun ist aber gerade diese Ausstellung so geartet, daß eine authentische Stellungnahme des Initiators höchst angebracht erscheint, da die dabei aufgerollte Problematik sehr kompliziert ist und Fehlinterpretationen sehr nahe liegen. Insofern ist es gefährlich, sich nur auf die Berichterstattung der Presse zu verlassen, da gerade hier auch geringe Abweichungen schon weittragende Folgen haben können. Unter diesen Umständen kann in der Ausstellung eine mir völlig fernliegende feindliche Absicht gegen die moderne Kunst erblickt werden, und so halte ich es um so mehr für angezeigt, eine Einfühlung zu schreiben, die meine eigene Meinung eindeutig festlegt. Der Besucher soll die Möglichkeit erhalten, sich in dieser Richtung zu orientieren. Vor die Unmöglichkeit einer Herausgabe eines Katalogs gestellt, kam mir die Idee, ein geeignetes Blatt zu bitten, den geplanten Katalogtext abzudrucken. Nun bin ich der Redaktion der „Furche“ zu Dank verpflichtet, daß sie meiner Bitte nachkam und Raum zur Veröffentlichung dieses Artikels zur Verfügung stellte. Der Autor

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Seelische Inadäquationen, wie wir sie praktisch bei allen Menschen vorfinden, können einen solchen Grad erreichen, daß sie die unter ihnen Leidenden so stören, daß sie sich entschließen, tiefenpsychologische Hilfe zu beanspruchen. Es kann sich hier beispielsweise um Angstzustände, um Reizbarkeit durch Autoritäten, um Minderwertigkeitsgefühle, sexuelle Gefühlskälte, um Berufsschwicrigkeiteu, wie zum Beispiel Lampenfieber u. a., handeln. Solche Menschen brauchen anderen überhaupt nicht besonders aufzufallen, können aber trotzdem die Tendenz haben, solche, ein vollmenschliches Leben hemmende, seelische Gegebenheiten loszuwerden.

Inadäquate, den objektiven Tatsachen nicht entsprechend zugeordnete seelische Reaktionen pflegen nun unbewußte Gründe zu haben. Um nun eine Neuordnung der Psyche durchzuführen, ist es notwendig, die unbewußten Gründe bewußt zu machen. Hiezu ist wieder eine Technik erforderlich, die im Laufe der Entwicklung von Freud bis heute nur weiter differenziert wurde. Hatte sich Freud vor allem auf Träume, Fehlleistungen und Assoziationen gestützt, so kamen später Phantasieren, gelenkte Wachträume und schließlich auch das analytische Zeichnen hinzu. Auf diese Weise versucht man, möglichst vom Eewußtsein nicht beeinflußte Produktionen des Unbewußten zu erhalten.

Wir lassen also während tiefenpsychologischer Prozesse unsere Analysanden zeichnen. Sie sollen zu Hause, nicht beim Besuch bei uns, zeichnen, wobei wir ihnen eine bestimmte Anweisung geben. Diese außerordentlich wichtige Anordnung beinhaltet den Auftrag, ziellos, planlos zu beginnen. Die Betreffenden dürfen nichts abzeichnen, sondern sollen möglichst dem unmittelbaren Drängen folgen, das sich beim Zeichnen einstellt. Sie sollen hiebei möglichst alle Zensuren nach irgendwelchen Wertgesichts-punkten zurückstellen.

Wenn der Durchschnittsmensch zeichnet, will er gewöhnlich „schön“, „gut“, „gescheit“, „naturgetreu“ zeichnen. Das heißt, er versucht, seine Produktionen im Hinblick auf bestimmte Werte hin auszurichten. Gerade das aber soll bei der von uns geforderten Art der Produktion nicht geschehen. Es soll möglichst spontan und zensurfrei gezeichnet werden. Der Zweck hiebei ist der, das Unbewußte in seiner nackten Tatsächlichkeit kennenzulernen und nicht irgendwelche Verschleierungen seiner selbst.

Dies bedeutet nicht, daß wir gerade diese Wertungen als solche ablehnen, vielmehr nur, daß wir nun einmal sehen wollen, was faktisch gegeben ist, und erst danach zu werten versuchen wollen. Die Wertgegensätze, die wir vor allem zurückgedrängt haben wollen — völlig ausschalten lassen sie sich nie, wenigstens nicht alle auf einmal — sind folgende:schön — häßlich gescheit — dumm gut — böse moralisch — unmoralisch erwachsen — kindisch und schließlich das für unsere Ausstellung vielleicht wichtigste Gegensatzpaar: naturgetreu — nicht naturgetreu oder wirklichkeitsgemäß - nicht der Wirklichkeit gemäß.

Das Zurückdrängen dieser Zensuren ist häufig allein schon schwierig, denn manche Menschen hängen mit einer großen Intensität an einem illusionären Bild ihrer selbst und fürchten sich, auch nur auf kurze Zeit sich selber und anderen Einblick in ihre spontane Seelentätigkeit zu gewähren.

Unter diesen Bedingungen erhalten wir unsere Zeichnungen. Da nun ein psychoanalytischer (tiefenpsychologischer) Prozeß oft sehr lange dauert, bekommen wir daher auch oft eine große Zahl solcher Zeichnungen, manchmal mehrere hundert, von der gleichen Person. Im Laufe eines solchen Prozesses verändern sich nun die Produktionen, häufig im Sinne steigender Intensität, besonders, wenn es sich um Kernprobleme des betreffenden Menschen handelt, in deren Nähe man mit Hilfe der Zeichnungen kommt. Der Druck des Unbewußten steigt oft stark an und erhöht die Intensität der Produktion meist beträchtlich.

Da nun die Anweisungen schon dementsprechend sind, bekommen wir Zeichnungen, die in ihrer Struktur mit Produkten moderner Künstler häufig eindeutige Analogien haben. Wenn wir unsere, während tiefenpsychologiseher Prozesse entstandenen Zeichnungen und Malereien ansehen, dann müssen wir sagen, daß wir bei einem gar nicht unbeträchtlichen Teil einen eindeutigen und starken Affektausdruck feststellen müssen, und zwar nicht etwa bei Künstlern, dies wäre ja kein Wunder, sondern auch bei den meisten Personen, die keine bildenden Künstler sind und nach dem obligaten Zeichenunterricht überhaupt nie wieder gezeichnet haben. Es haben auch Personen, die in der Schule nur schlechte Noten im Zeichnen bekommen hatten, erstaunlich Intensives geleistet.

Dabei geht selbstverständlich unseren Analysanden die künstlerische Technik ab, die sie ja nie gelernt haben, wenn auch manche, unter einem starken expressiven Druck stehend, mit Farben so lange herumexperimentieren, bis sie jenen Effekt erzielen, den sie nun einmal glauben, erzielen zu müssen. Auf diese Weise schaffen sie sich ihre Technik selber. Häufig aber muß man hier unterscheiden lernen zwischen der gestaltenden, unbewußten Idee und dem technischen Können. Oft spürt man durch eine geringe Technik einen eminenteren Aus drucksdrang, der mit dem eigentlich Künstlerischen zumindest etwas gemeinsam hat.

Dies kann seinen Grund nur darin haben, daß jeder Mensch unbewußt in einem Bezirk seiner Seele Künstler ist, daß es aber einer, hier eben tiefenpsychologischen Technik bedarf, um dieses Künstlerische zu erwecken. Die Wichtigkeit dieser Feststellung für die Kunstpädagogik kann gar nicht genug unterstrichen werden.

Nun zum konkreten Material unserer Au Stellung.

Es stammt durchweg aus tiefenpsychologischen Prozessen. Keines der ausgestellten Bilder wurde von einem bildenden Künstler gemacht. Keine der produzierenden Personen hat eine besondere Zeichenausbildung vor der Produktion dieser Arbeiten genossen. Nur ein Teil interessierte sich überhaupt für Zeichnungen. Nur ein kleiner Teil war über die moderne Kunst näher orientiert, der Großteil lehnte sie anfänglich ab und hatte nur einen sehr losen Kontakt mit ihr.

Die gezeigten Bilder — es sind ungefähr 350 in Rahmen und eine ähnliche Zahl aufgelegt — wurden ausgewählt aus etwa 8000 bis 9000 Zeichnungen und Aquarellen, die in meinem Besitz sind und die ich während mehrerer Jahre gesammelt habe. Allerdings ist zu sagen, daß ein Großteil der zeichnenden Personen, da sie ja nicht für Ausstellungen, sondern rein für psychologische Zwecke arbeiteten, sehr kleine Zeichnungen machte, die für eine Ausstellung nicht genügend groß sind — einen Teil zeigen wir unter Glasplatten —, obwohl sie oft sehr interessant sind.

Einzelne Personen bekommen nach etlichen Zeichenversuchen Lust zur Verwendung von Farbe und von großem Papier. Wir ermuntern diese Personen zu solchen Betätigungen. Nur von solchen Prozessen gibt es Material, das für eine Ausstellung geeignet ist, es sei denn, man entschließt sich zu einer photographischen Vergrößerung. In einigen Fällen — es ist dies einfach eine Kostenfrage — haben wir eine Vergrößerung vornehmen lassen, um die gestaltende Kraft, die auch im kleinen Material wirksam ist, aufzeigen zu können.

Sehr wichtig ist nun die weitere Feststellung, die wir unbedingt machen und stark betonen müssen, daß die Produzenten vorliegender Arbeiten keine Geisteskranken sind. Es handelt sich also nicht um „Bildnerei von Geisteskranken“. Die Personen haben seelische Schwierigkeiten, die sie keineswegs in besonderer Weise vom Durchschnittsmenschen unterscheiden, denn der hat sie auch, tut nur selten etwas, um sie zu beheben. Es ist keineswegs so, daß die vorhandenen seelischen Störungen die Ursache wären für die Tatsache, daß diese Produktionen Analogien zu modern-künstlerischer Gestaltung aufweisen.

Unserer Ansicht nach darf daraus einzig allein geschlossen werden, daß. wie wir oben schon andeuteten, eine allen gemeinsame künstlerische Basis in der menschlichen Psyche besteht. Im übrigen ist die wissenschaftliche Erarbeitung dieser Produkte noch lange nicht abgeschlossen. Viel wird da noch diskutiert werden müssen.

Da nun in bezug auf die Urheber solcher Produktionen für mich selbstverständlich Schweigepflicht besteht, können zu den Bildern weder Namen noch nähere Daten der Urheber bekanntgegeben werden. Nun sollte aber der Beschauer die Möglichkeit erhalten, zu erfahren, welche Bilder von der gleichen Person geschaffen worden waren. Daher erhielt jeder Urheber einen bestimmten Buchstaben, der jedes seiner Bilder kennzeichnet, mit einer Nummer, die es möglich machen soll, sich konkret auf ein Bild zu beziehen. Hier wurde nun jedem Buchstaben noch das Geschlecht und ungefähre Alter — auf eine durch fünf teilbare Zahl, auf- oder abgerundet — hinzugefügt, um doch das Mögliche auszusprechen.

Die Leitung der Wiener Secession hat mit der Eimöglichung dieser Ausstellung großen Mut bewiesen, wofür ich ihr hier aufrichtig danke.

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