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Über Fußnoten

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Es ist überaus anregend, die verschiedenen Formen und Gestalten der Lüge zu beobachten; eine solche Betrachtung gewährt uns nämlich einerseits Einblick in die schöpferische Erfindungsgabe der Menschen und bietet uns anderseits den unterhaltsamen Anblick der Gefoppten. Eine der milderen Arten der Lüge, die mir immer ganz besonderen Spaß bereitet hat, ist die Verwendung von Fußnoten in modernen Geschichtswerken.

Die ganze Geschichte mit den Fußnoten hat sicher in der allerbesten Absicht angefangen. Die erste, bescheidene, kleine Fußnote diente lediglich der Unterstützung eines im Texte ins Treffen geführten Argumentes. Der Autor wollte irgendeine Behauptung, die außerordentlich oder befremdend erschien, ohne den Zusammenhang seiner Darlegungen zu unterbrechen, unterstützen und belegen; in der Absicht, den Leser zu überzeugen, gibt er in der Fußnote die Quelle oder die Belegstelle an, die seine Behauptung beweisen oder glaubhaft machen soll; er sagt gleichsam zum Leser: „Wenn du mir nicht vertraust, schlage dieses oder jenes Werk nach, das mir als Autorität gilt.“ Das war ganz unschuldig und ganz in Ordnung. Dann aber kam die Schlange zum Vorschein, oder besser die ganze Schlangenbrut.

Der erste bedeutende Autor, der — soweit ich feststellen kann — eine recht ansehnliche Schlange einführte, war Gibbon. Er verwendete zwar die Fußnote noch korrekt als gelegentliche Unterstützung irgendeiner fragwürdigen Behauptung; aber er bringt doch auch eine neue Note in die ganze. Sache.

Ich bin nicht ganz sicher, ob er dabei wirklich der erste ist. Ich möchte es beinahe bezweifeln, denn Gibbon war kein selbständiger Denker, sondern ein Nachbeter der zeitgenössischen französischen Schriftsteller der Aufklärung und ein Schüler Voltaires. Jedenfalls aber ist Gibbons Buch das erste bedeutende Werk, in dem die Anfänge der Mißbräuche und Fälschungsmanöver bei der Verwendung von Fußnoten festzustellen sind, und gerade die ersten und die weitaus schlimmsten; niemand hat von diesen Methoden so ausgezeichnet Gebrauch gemacht wie Gibbon; er war auch darin genial, wie in vielen anderen Dingen. Es handelt sich um die Verwendung der Fußnote, um den einfachen Mann, den gewöhnlichen Leser zu täuschen und zu beeinflussen. Gibbon macht hiervon ausgiebigsten Gebrauch.

Seine Lieblingsmethode ist es, zunächst im Text eine falsche Behauptung aufzustellen und diese sodann in einer Fußnote in solcher Weise zu erläutern, daß er zwar gegen den Fachmann gedeckt erscheint, der Unwissende aber hinters Licht geführt wird. Er behauptet zum Beispiel im Texte in ganz bestimmter Form irgendeinen Sachverhalt — obgleich er selbst genau weiß, daß dies falsch ist, und daß jeder Nachweis dafür, wenn überhaupt erhältlich, höchst zweifelhaft wäre. Dann setzt er zu dieser Behauptung eine Fußnote, die einer Einschränkung seiner Feststellung im Texte gleichkommt, so daß ein Kritiker, der die Materie kennt, zugeben muß, daß auch Gibbon sie kennt. Es ist gerade so, wie wenn ich schriebe: „Im Jahre 1914 sind die Russen in Nordengland gelandet und durch England marschiert, um an der französischen Front eingesetzt zu werden“, und dann eine Fußnote setzte: „Siehe aber spätere Kritiken dieses Berichtes von dem zwar’sehr genauen, aber fanatischen X. Y.“ An anderer Stelle führt Gibbon den einfachen Leser wieder durch Hinweise auf Belegstellen hinters Licht, die höchst gelehrt aussehen, tatsächlich aber völlig nichtssagend sind; der schlichte Leser sagt sich angesichts dieser Gibbon Edward, Historiker, 1737—1794; sein berühmtes Buch, auf das hier Bezug genommen wird, ist „The Dedine and Fall of- the Roman Empire". Anmkg. d. Uebers.

Fußnoten: . Ich kann natürlich nicht alle diese alten Bücher nachlesen, aber der gelehrte Mann, der das Buch schrieb,’hat sie sicher alle gelesen.

Ein glänzendes Beispiel für die Kniffe, die Gibbon anwendet, ist seine berüchtigte Falschmeldung, die er über den hl. Georg in Umlauf setzte. Es ist, weiß Gott, wenig genug über diesen Heiligen bekannt, als daß auch noch falsche Berichte über ihn verbreitet werden müßten. Man findet die Stelle im dreiundzwanzigsten Kapitel seines Buches, in dem er die geradezu absurde Behauptung aufstellt, daß der hl. Georg identisch sei mit Georg von Cappadocien, diesem betrügerischen Schweinehändler und Gegner des heiligen Athanasius.

Dieses geradezu klassische Beispiel für einen Fußnotenbetrug verdient festgehalten zu werden. Im Text heißt es wörtlich: „Der berüchtigte Georg von Cappadocien ist in den berühmten hl. Georg von England umgewandelt worden.“ Die Fußnote hierzu lautet: „Diese Umwandlung wird nicht als absolut sicher behauptet, aber als außerordentlich wahrscheinlich. Siehe Longueruana, Band I, Seite 194.“

Diese Fußnote verwässert also sofort die Behauptung im Text und gibt sich gleichzeitig den Anschein großer Gelehrtheit und Gründlichkeit. Die größte Ueberraschung aber ist es, wenn man erfährt, daß die zitierte Autorität mit dem klingenden Titel „Longueruana“ ein alter Schmöker und ein Schundbuch ist, das allerhand abenteuerliche Tratschgeschichten, ohne den geringsten Anspruch auf irgendeine historische Richtigkeit zu erheben, erzählt und von einem sonst ganz obskuren Franzosen des 18. Jahrhunderts zusammengestellt worden ist; das ist nun die Quelle, aus der Gibbon seine Weisheit über den hl. Georg schöpft. Ich habe mich — wahrscheinlich als erster und sicherlich als letzter meiner Generation — der Mühe unterzogen, das Buch ausfindig zu machen und nachzuschlagen.

Ein weiterer recht beliebter .Schwindel mit Fußnoten ist, was ich den „Hinweis auf die Ausnahme“ nennen möchte. Die Methode ist heute ziemlich verbreitet. Man stellt im Text einen Unsinn oder eine Unwahrheit fest und führt dann in der Fußnote einen oder mehrere Autoren an, die den gleichen Un- sirm oder die gleiche Unwahrheit schon vorher’ behauptet haben. Das ist natürlich ganz leicht, und jeder kann es mit den meisten Unsinnigkeiten tun; und wenn der Leser hinreichende Unwissenheit besitzt, so wird der Kniff. auch Erfolg haben. So könnte man zum Beispiel die Behauptung vertreten, daß die Erde keine Kugel, sondern flach sei und in der Fußnote zwei oder drei Zitate von den bekannten Flugschriften und Broschüren der Flat Earth Society anführen, von denen ich mehrere als Kuriosa besitze.

Der nächste Schritt im Gebrauche der Fußnote zu unredlichen Zwecken war ihre Verwendung als Maske und Blendwerk. Ich weiß nicht, wer damit den Anfang gemacht hat, aber ich sollte denken, daß die große deutsche historische Schule, die im neunzehnten Jahrhundert begann, die Weltgeschichte neu zu schreiben, dafür verantwortlich ist. Jedenfalls aber haben ihre Nachfolger, die Franzosen, sie darin übertroffen. Ich habe ein Buch gesehen, das sich als ein Geschichtswerk ausgab; es hatte auf jeder Seite nur etwa ein Viertel Text, während alles übrige Fußnoten und Hinweise waren. Die Motive solcher Autoren sind natürlich, wie vielgestaltig sie auch sein mögen, sehr durchsichtig. Da ist einmal.der Stümper, der damit zum Ausdruck bringt: „Hier sind die Belege — wenn ich sie auch nicht alle studieren und verstehen kann, so kenne ich sic wenigstens." Da ist weiter der zaghafte, schüchterne Autor, der sich hinter einem Walle anderer Autoren zu verschanzen sucht. Da ist weiter der Schulmeister, der anderen Schulmeistern und den Lesern die es übrigens schon beinahe ganz aufgegeben haben, solche Schwarten zu lesen, weil sie unlesbar langweilig geworden sind zeigen will, daß auch er einst in Arkadien war,

Ich ha.be die Beobachtung gemacht, daß der Kritiker „vom Fach“ — der natürlich selbst ein Fußnotenschreiber erster Güte ist —, jedem Autor, der ein Buch ohne derartige Fußnoten schreibt, vorwirft, daß er dichtet und Romane schreibt. Wenn man dann noch in der historischen Darstellung Einzelheiten schildert und lebendige Details berichtet, die man sorgfältig und gewissenhaft aus einer umfassenden’Lektüre zusammengetragen hat, es aber unterläßt, eine lebendige Schilderung durch die Scharlatanerie und den Snobismus von Fußnoten und Hinweisen zu verderben und unlesbar zu machen, so nimmt der Kritiker vom Fach ohne weiteres an, daß der Autor keine genauen Aufzeichnungen aus der Literatur gesammelt habe und daher, wenn unter Kreuzverhör genommen, nicht Rede und Antwort stehen könne; meistens hat er dabei sogar recht, denn man hat nicht alle Details genau in einer Kartothek aufgezeichnet und kann wirklich nicht antworten.

Die Mehrzahl dieser ungeheuren, verrückten und fragwürdigen Geschwülste am Texte ist ziemlich ehrlich in ihren Angaben, denn der größte Teil unserer modernen Geschichtsschreiber, di“ diese Fußnoten in Massen verwenden, ist ebenso unfähig, selbständig zu urteilen wie einen guten Stil zu schreiben, und so weit von dem entfernt, was Rossetti „fundamentale Gehirnarbeit“ nannte, daß sie gar nichts anderes können, als alle ihre von anderen gesammelten Notizen auf einen Haufen zu schaufeln und dies dann Geschichte zu nennen. Hie und da aber fällt der eine oder der ändere der Versuchung zum Humbug anheim, und die Hinweise werden gefälscht.

Der verstorbene Historiker Andrew Lang pflegte zu sagen, daß der Autor, der unter dem Pseudonym Anatole France schreibt, die Sammlung der Fußnoten zu einem Buch über die heilige Jeanne d’Arc in Akkord vergeben haben müsse. Die Idee eröffnet interessante Ausblicke. Ein Mann mit einem Namen als Autor könne sich einfach hinsetzen und eine historische Arbeit über ein Thema schreiben, von dem er gerade noch eine blasse Idee hat. Das Manuskript übergibt er dann einem armen Teufel, der für ihn schwitzend in der Bibliothek des British Museum die Bezugsstellen und Belege für jede Behauptung oder Feststellung, die dem Autor beliebte, heraussucht; mit einiger Mühe wird dies gelingen, denn man kann für alles, was man nur will, eine Belegstelle finden. Jedenfalls hat Andrew Lang in dem Falle des Buches über Jeanne d’Arc genau nachgewiesen, daß der Autor die Werke, auf die er sich beruft, niemals gelesen hat, obwohl er sie haufenweise zitierte.

Das bringt mich nun zu einem weiteren Unfug, der mit Fußnoten betrieben wird; es ist die verbreitete Gewohnheit, die Fußnoten anderer Bücher einfach abzuschreiben. Als Student in Oxford tat ich es selbst, und die Universität hat mich dazu verführt; heute noch bitte ich Gott und die Menschheit um Vergebung dafür. Es ist ein sehr - weit verbreiteter Brauch, und ein klein wenig Findigkeit genügt, um die Spuren zu verwischen. Ein sehr gelehrter und weiser Mann erzählte mir einmal folgende amüsante Geschichte:

Er arbeitete an einem wirtschaftsgeschichtlichen Thema und fand in allen Werken, die er dazu benötigte, immer wieder Hinweise auf ein Buch aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts, das einen ökonomischen Essay über die Frage, an der er arbeitete, enthielt. Ein Buch nach dem anderen nahm immer wieder Bezug auf diesen Essay und die darin enthaltene Theorie; meinem Gewährsmann, der, wie ich schon sagte, ein hervorragender Fachmann auf diesem Gebiete war und überdies was bei hervorragenden Fachleuten gar nicht immer der Fall ist über ein beträchtliches Allgemeinwissen verfügte, kam die Sache verdächtig vor. Er konnte nicht glauben, daß ein Buch aus dieser Zeit wirklich gesagt haben sollte, was in den Zitaten immer wieder behauptet wird.

Endlich versuchte er, sich dieses Buch, dessen Zitierung ihn überall verfolgte, selbst anzusehen, und fand, daß nur zwei Exemplare davon auffindbar seien. Das eine war in einer öffentlichen Bibliothek und das andere in einer Privatbibliothek. Die öffentliche Bibliothek war in einer entfernten Provinzstadt, aber die private war leichter zu erreichen. Er schrieb also dem Besitzer einen höflichen Brief und bat, in das Buch Einsicht nehmen zu dürfen. Er erhielt pünktlich eine liebenswürdige Antwort mit der Mitteilung, daß die Bibliothek — leider einem Brande zum Opfer gefallen und das Buch vernichtet sei. So blieb ihm nichts übrig, als sich zu der Reise zu entschließen, und in dieser öffentlichen Bibliothek machte er schließlich eine sehr interessante Entdeckung. 1. Daß das Büchlein, das er dort fand, noch nie benutzt worden war, weil es gar nicht aufgeschnitten war, und 2., daß die überall angegebenen Zitate aus dem Buch kaum irgendeinen Bezug oder Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches hatten. Daraufhin unternahm er mit unendlichem Fleiß und größter Mühe genaue textkritische Untersuchungen und konnte schließlich einwandfrei feststellen, daß seit dem Jahre 1738 kein Mensch mehr die fragliche Stelle mit eigenen Augen gesehen haben kann. Seit dieser Zeit ist die Stelle erst verfälscht und sodann in der gefälschten Forpi abgeschrieben und immer wieder abgeschrieben worden.

Ich habe auch persönlich eine ganz ähnliche Erfahrung mit einem Hinweis auf eine Belegstelle gemacht. Jahre hindurch stieß ich immer wieder auf ein und dieselbe alberne Behauptung, die immer wieder auftauchte, und nach der eine päpstliche Bulle ein Verbot erlassen hätte, chemische Untersuchungen vorzunehmen. Die Fußnote vor mir enthielt neuerlich einen Hinweis auf dieses Verbot, und die Bulle sollte angeblich aus Avignon stammen. Mir schien die Behauptung ebenso wahrscheinlich, wie wenn man mir gesagt hätte, daß Napoleon III. das Polkatanzen verboten hätte. Endlich suchte ich mir aus der in Lyon gedruckten Sammlung die fragliche Bulle heraus und fand bestätigt, was ich geargwöhnt hatte. Die Bulle hat mit chemischen Untersuchungen überhaupt nichts zu schaffen. Sie enthielt kein Sterbenswörtchen gegen den ehrlichen Mann, der in seinem Laboratorium zur Beglückung der Menschheit Gifte oder Explosivstoffe herstellt. Sie läßt es der ganzen Welt unbenommen, eine wasserhelle Flüssigkeit in eine andere wasserhelle Flüssigkeit zu gießen und den Fachmann durch die entstehenden Dämpfe in Entzücken zu versetzen. Was die Bulle wirklich sagte, war etwas ganz anderes. Die Bulle erklärte, daß gewisse umher-ziehende Leute, die dem Volke Blei oder Bronze unter dem Versprechen herauslockten, es geheim in Gold zu verwandeln, Schwindler seien, schwere Geldstrafen zahlen sollen und das gesammelte Metall den betrogenen Eigentümern zurückzustellen haben — was im großen und ganzen genommen eine durchaus vernünftige Maßnahme scheint.

Natürlich wird man jetzt an mich die Frage richten, die jeder Reformator zu gewärtigen hat: Was wollen Sie also an die Stelle der braven kleinen Fußnote treten lassen, wenn Sie sie umbringen wollen? Wie kann man wissen, ob der Historiker die Wahrheit sagt, wenn er keinerlei Belege für seine Behauptungen erbringen kann? Es ist ja zuzugeben, daß die Fußnoten eine lesbare Geschichtsschreibung heute unmöglich machen. Es ist auch richtig, daß mit Fußnoten arger Unfug getrieben. wird, so daß sie beinahe nutzlos geworden sind. Aber irgendeine Garantie für die Authentizität der Behauptungen muß doch gegeben werden. Wie ist eine solche zu erlangen?

Ich würde darauf folgendes antworten: Man setze die Fußnoten in kleinstem Druck an das Ende des Buches, und der Autor eines Buches möge sich, soweit das irgend geht, damit begnügen, lieber einzelne typische Belege zu geben, anstatt ganzer Listen. Lassen wir doch die Autoren die Geschichte so schreiben, wie sie geschrieben werden soll — mit eingehenden Detailschilderungen, lebendig und plastisch — zur Freude der Leser und nicht der Fachkritiker. Der Autor kann hier oder dort einen Abschnitt herausheben und im Anhang den Ansprüchen der Kritik Rechnung tragen und dieser in sein Quellenmaterial Einblick gewähren. Er soll aber seine genauen Aufzeichnungen für sich behalten und ruhig die Kritik herausfordern. Nie wird er sich vor dem Groll und dem Aerger aller jener schützen können, die selbst nicht klar, gar nicht zu reden von lebendig, schreiben können und die nie imstande waren, die Vergangenheit durch ihre Schilderung zu neuem Leben zu erwecken; aber er wird sicher sein vor ihrer zerstörenden Kritik.

Aus dem demnächst erscheinenden Buch „Gespräch mit einem Engel“, Verlag Herold, Wien.

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