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Unbedankter Brückenbauer
Die Geschichte von Hans Egon Holthusen, der vor fast einem halben Jahr sehr vereinsamt in München starb, wird sicherlich bald einmal ausführlicher geschrieben werden: zwar erhielt er nach seinem Tod in einigen großen Zeitungen vor allem in Deutschland und in der Schweiz einige kluge Nachrufe, doch nirgends war auch nur einigermaßen überzeugend der Dank ausgedrückt, den die junge Generation nach 1945 ihm schuldet. In der „Frankfurter Allgemeinen”, im „Merkur” und anderen Zeitschriften war mit dem neu erwachenden deutschsprachigen Kulturleben der norddeutsche Holthusen jene markante Figur, die das Wissen und die Kraft besaß, die Brücke zur Literatur der Zeit vor Hitler und zur geistigen Welt jenseits der Grenzen zu bauen. Von Holthusen las und hörte man damals ausführlich und aus geradezu unfaßbarer Kenntnis über T.S. Eliot, Faulkner, W.H. Auden, Thornton Wilder, obwohl er während der Jahre unter Hitler vom Ausland ebenso abgeschnitten war wie alle anderen. Holthusen hatte das Wunder geschafft, 1945 über die Literatur in England, Frankreich, den USA und natürlich über jene Entwicklung vor Hitler im deutschprachi-gen Bereich voll informiert zu sein. Er bedurfte keiner Nachholperiode, sondern begann einfach zu schreiben.
Wie er es zustandebrachte, innerhalb des Krieges, innerhalb der totalen Abgeschlossenheit von allem Geschehen außerhalb des Landes zu den notwendigen Büchern und Informationen zu kommen, gehörte mit zum Phänomen seiner enormen Präsenz im geistigen Leben nach dem Krieg. Sein Buch „Der un-behausfe Mensch” 1951 faßte mehrere in Rundfunk und Zeitschriften publizierte Essays zusammen. Wie hoch oder niedrig die Auflage gewesen sein mochte, dieses Buch ging unter den Intellektuellen von Hand zu Hand. Die Kluft zwischen der Epoche Rilkes und Hofmannsthals und der Nachkriegsgegenwart schloß sich. Gestalten wie Gottfried Benn und Alfred Döblin wurden ins Licht gestellt, die blinden Flecken der deutschsprachigen Literatur verschwanden. Holthusen hatte 1945 europäischen Horizont. Was heute selbstverständlich erscheint, war damals, und ist bis heute, eine historische Tat. Holthusen wurde vergessen, weil anfangs alle seinen Weg gegangen waren, dann aber in hundert Abzweigungen eigene Schritte getan haben. Dank sollte bleiben.
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