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Nun, zwölf Jahre lang bestand das sogenannte Dritte Reich, das sich für ewig hielt, und niemand wird bezweifeln, daß dieses Jahrdutzend’ eine der aufschlußreichsten Epochen war, welche die Menschheitsgeschichte kennt. Wer sie für abgetan erklärt, ist im Irrtum; es geschehen immer wieder Dinge und wir hören immer wieder Reden, die uns mahnen, den geistigen Gesundheitszustand der Mitlebenden, natürlich auch unseren eigenen, zu prüfen; denn wer über, das Treiben anderer den Stab bräche, beweise dadurch noch keineswegs, daß er selbst hoch darüber steht.

Nach dem ersten Weltkrieg schienen die seelischen Fundamente in dem besiegten Deutschland wohl erschüttert, aber nicht untergraben, jedenfalls leicht wiederherstellbar zu sein. Ob man aber in großer oder kleiner Stadt oder auf dem Lande lebte, man konnte nicht lange übersehen, daß etwas in unserem Volke anders geworden war, und als Hitler die Herrschaft antrat, lag es bald aller Welt vor Augen. Wenn wir älteren Leute an die Männer dachten, die wir seit unserer Kindheit als deutsche Staatsoberhäupter erlebt hatten, so mochten sie sich wohl nach Begabung und Charaktereigenschaften voneinander unterscheiden; eines mußte man jedem von ihnen zuerkennen, ob es nun Wilhelm der Erste oder der Zweite, oder der Reichspräsident Friedrich Ebert, oder der Prinzregent von Bayern, oder einer unserer Könige war: sie sprachen in ihren öffentlichen Reden nur aus, was sie nach ihrem Wissen und Gewissen für die Wahrheit hielten. Seit 1934 aber war es offenbar geworden, daß der Mann, der an der Spitze der deutschen Regierung stand, sobald er es für zweckmäßig hielt, kaltblütig log und die Menschen, die ihm unbequem wurden, ohne Verhör umbringen ließ. Dies waren ungeheuerliche Erfahrungen, die alle unsere Begriffe umstürzten, und am unverständlichsten kam es mir vor, daß nur wenige sich darüber entsetzten, ja daß die meisten es für gut und notwendig erklärten. So bestätigte sich, worauf Denker und Beobachter, wie Huizinga und Ortega y Gasset, seit langem hingewiesen hatten, ja was in Dichtungen Carl Spittelers zum Hauptmotiv geworden war, daß nämlich zwei Menschenarten nebeneinander leben, die sich auf den ersten Blick so ähnlich sehen können wie die Lose in einem Glückshafen, bis eine Situation entsteht, die jeden zwingt, seinen wahren Kern zu zeigen; dann treten wesenhafte Unterschiede hervor, und in einem anfangs langsamen, später überstürzenden Anschauungsunterricht sollten wir erfahren, was dies bedeutet. Wahrscheinlich trägt jeder von uns Elemente der beiden Arten in sich, und entscheidend ist nur, welche überwiegen.

Es gibt die vielen, deren Menschentum nur ein bedingtes ist, und oft finden wir sie unter jenen, die man Verstandesmenschen nennt. In geruhigen Zeitläufen können sie als gutartige, gescheite, sogar geistreiche und manchmal hochbegabte Personen gelten; es ist, als hindere sie nur ein feiner Nebel, zu dem Punkte vorzudringen, auf den es ankommt. „Sie ermangeln der Einbildungskraft“, wie Rudolf Kaßner es ausdrückt, und das ist wohl einer der Gründe, warum sie, in einem höheren Sinne, unmündig bleiben. Wie in der Mitte des physischen Gesichtsfeldes kleine Ausfallsbezirke vorkommen, die der Augenarzt als zentrale Skotome bezeichnet, so scheint jene Stelle des inneren Lebens, wo das Tiefmenschliche, das Gottnahe wächst, bei ihnen verdunkelt oder verödet zu sein. Damit hängt es auch zusammen, daß ihnen der Humor fehlt, daß er sich in ihnen zum Sarkasmus verschärft. Auf jenem grauen Felde aber siedeln sich dann die Wahnbilder an, die man Ideologien nennt. Alles Gegenwartsgeschehen, besonders das politische, erregt solche Naturen maßlos, und von jeder Aenderung der äußeren Verhältnisse erwarten sie sich ihr Heil. Zur Masse geballt, zwingen sie der Gesamtheit den Willen des Zeitgeistes auf, dem sie selbst verfallen sind; wer nicht das nämliche bekennt wie sie, ja wer sich nur schweigend abseits hält, der beunruhigt und erzürnt sie, und sie können zur Meute werden, die ihn anfällt.

Mitten unter ihnen wohnen andere, deren Unterscheidungsmerkmal scheinbar nur ist, daß sie behutsamer urteilen und für Schwankungen in der umgebenden Atmosphäre empfindlicher sind. Man könnte sie die Wissenden nennen, auch wenn sie niemals eine höhere Schule besucht haben. Während auf jene der Gegenwart Verhafteten nichts heftiger einwirkt als das öffentliche Schauspiel einer erfolgreichen Willensentfaltung, beugen diese sich ihr Leben lang vor Bemühungen, die selten einen unmittelbaren Erfolg verheißen, vor Gütern, die der bloße Wille nie erreicht. Wenn einer das Volk mit Reden umwirbt, so achten sie darauf, an welche Ordnung der Geister er sich wendet. Sie fühlen, wie unscheinbar das Echte wächst, und im Gegensatz zu den Betörbaren, die gern jedem ihre vor kurzem erlernte Meinung aufdrängen möchten, wählen sie sich die Menschen, denen sie das Ergebnis ihres Denkens anvertrauen wollen, sorgfältig aus. Ihnen ist es kein Geheimnis, daß hinter blendenden Redekünsten sich unheilbarer Schwachsinn verbergen kann; sie spüren den Unterdrückungstrieb, der sich so gern des Wortes Freiheit bedient; sie merken das unaufhaltsame Hingleiten zum Abgrund, während alle Welt von Aufstieg spricht. Sie lassen sich auch durch einzelne richtige Handlungen nicht von der Gültigkeit eines Ganzen überzeugen, wenn dieses unter einem falschen Zeichen steht. Worte der Weisen, Gebilde der Dichter sind ihnen nicht nur köstliche Zierden, womit man Gespräche und Vorträge ausstattet; sie verkehren mit ihnen wie mit lebenden Beratern. Sie glauben dem großen Dichter mehr als dem Redner, auch wenn sie das Wort Goethes nicht kennen sollten, der die Poesie den „wahrhaften Ausdruck eines aufgeregten, erhöhten Geistes“ nennt, während er von der Rede sagt, „sie verfolge ihre Zwecke und sei Verstellung vom Anfang bis zum Ende“. Sie fühlen, wie anderen zumute ist; sie haben erfahren, daß jedes Unrecht jede Vergewaltigung, die man an einem Mit-menschen verübt, eine wesentliche Kraft im eigenen Innern lähmt. Sie sind fähig des großen Erbarmens, aus dem jede tiefere Einsicht kommt.

Wir müssen eine Schicksalsfügung darin sehen, daß die zweierlei Arten von Personen nur scheinbar die nämliche Sprache sprechen; sie meinen nicht das gleiche, wenn sie das gleiche sagen. Erschreckend ist auch die Machtlosigkeit des höher gearteten, des menschlichen Menschen innerhalb des Reiches, das von dieser Welt ist, und doch verstummt in ihm nie ganz die heimlich bestärkende Stimme, die ihm versichert, er diene der Zukunft und sein stillster Erfolg bedeute mehr als die Gewaltwirkungen der andern.

Es liegt nahe, zu glauben, jene Naturen von unverwirrtem Gefühle seien ausschließlich unter den sogenannten Gebildeten, sorgfältig Erzogenen zu finden und die anderen, die Flachen, die so oft ihren blinden Fanatismus mit persönlichen Vorteilen zu verbinden wissen, gehörten in überwiegender Zahl den breiten, ungelehrten Volksschichten an. So ist es aber nicht. Auch darauf hat Ortega y Gasset hingewiesen, daß es in jeder sozialen Klasse eine echte Masse und eine echte Elite gibt und daß sich die Vorherrschaft des Gewöhnlichen bis in die Gruppen von exklusiver Tradition hinein erstreckt, daß uns dagegen heute nicht selten unter Arbeitern und Bauern Menschen von hervorragender seelischer Zuflucht begegnen.

Es trifft auch keineswegs zu, daß alle Mitglieder jener Bünde, welche die Parolen der Tyrannei auf ihre Faltnen schreiben, wirklich den Plänen und Wünschen ihrer Führer entsprechen. Jugend läßt sich leicht mißbrauchen und mancher wird im Knabenalter von tönenden Worten berauscht, der dann, bei erwachender Vernunft, mit Schrecken erkennt, daß er im falschen Lager steht.

Aus „Ungleiche Welten’, Insel-Verlag, Wiesbaden

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