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Unsere Freund

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Das Aergernis in unserer Welt ist nicht das Leid, es ist die Freiheit. Gott hat seiner Schöpfung die Freiheit gegeben, das ist das Aergernis der Aergernisse, denn alle anderen entspringen aus ihm.

Wenn einige von euch nicht recht verstehen, was ich damit sagen will, so habe ich mich schlecht ausgedrückt. Aber wozu all die Erklärungen?

Irgendwo in der Welt, im Dunkel irgendeiner verlassenen Kirche, in einem gewöhnlichen Haus oder vielleicht an einem einsamen Kreuzweg faltet in diesem Augenblick ein elender Mensch die Hände, und aus der Tielfe seiner Not, ohne zu wissen, was er sagt, oder vielleicht ohne etwas zu sagen, dankt er Gott dafür, daß er ihn als ein freies Wesen geschaffen und ihm die Fähigkeit zu lieben gegeben hat. Und anderswo birgt eine Mutter zum letzten Mal • ihr Gesicht an einer kleinen Brust, die nie mehr atmen wird, opfert eine Mutter, die neben ihrem toten Kinde wacht, Gott das Stöhnen einer zu Tode müden Ergebung, als ob die Stimme, die einst die Sonnen in den Raum geworfen hat wie ein Sämann die Saat, als ob die Stimme, die Welten erbeben läßt, ihr sachte ins Ohr geflüstert hätte: „Verzeih mir. Eines Tages wirst du alles wissen, alles verstehen und mir Dank sagen. Jetzt aber sollst du verzeihen. Verzeih mir.“

Diese beiden, die gepeinigte Frau, der elende Mann, sind ins Herz des Mysteriums eingegangen, ins Herz der Weltschöpfung, ins göttliche Geheimnis. Was soll ich euch darüber sagen? Die Sprache dient dem Verstand. Und was diese beiden verstanden haben, verstanden sie mittels eines Sinnes, der über dem Verstände und dennoch mit ihm im Einklang steht, oder vielmehr mittels einer unwiderstehlichen, aus dem tiefsten Grunde der Seele steigenden Gefühlsbewegung, die alle ihre Geisteskräfte, ja ihr ganzes Wesen mit sich reißt.

Im Augenblick, da dieser Mann und diese Frau ihr Schicksal hinnahmen, da sie sich selbst hinnahmen in aller Demut, in diesem Augenblick erfüllte sich in ihnen das Mysterium der Schöpfung, wurden sie in Christi Barmherzigkeit neu geboren.

Sich ganz einsetzen... Ihr wißt selbst, welch geringen Teil unseres Wesens die meisten von uns bereit sind, fürs Leben einzusetzen, welch lächerlich winzigen Teil gleich jenen steinreichen Geizhälsen, von denen es einst hieß, sie lebten von Zinseszinsen.

Ein Heiliger lebt nicht von Zinseszinsen, ja nicht einmal von Zinsen: er lebt von seinem Kapital, er setzt seine ganze Seele ein. Dadurch unterscheidet er sich auch vom Weisen, der seine Weisheit absondert wie eine Schnecke ihr Schneckenhaus, um darunter ein Obdach zu finden für sich selbst.

In seinem jüngsten Buch „Die Probleme des Lebens“ nimmt der berühmte Professor Guyenot von der Genfer Universität die Unterscheidung zwischen Leib, Geist und Seele wieder auf. Wenn man diese, auch vom heiligen Thomas nicht zurückgewiesene Hypothese annimmt, muß man sich mit Entsetzen sagen, daß zahllose Menschen geboren werden, leben und sterben, ohne auch nur ein einziges Mal ihre Seele gebraucht zu haben, sie wirklich gebraucht zu haben, und sei es nur, um sich am lieben Gott zu versündigen.

Wer vermöchte diese Unglücklichen zu erkennen? Gehören wir nicht vielleicht auch in mancher Beziehung zu dieser Gattung? Bedeutet die Verdammnis nicht vielleicht, daß man in sich zu spät, viel zu spät, erst nach dem Tod, eine noch ganz ungebrauchte Seele entdeckt, eine säuberlich zusammengefaltete Seele, die verdorben ist wie kostbare und nie verwendete Seide? Wer immer seine Seele gebraucht, und stellte er sich noch so ungeschickt dabei an, hat teil am Leben der Welt, klingt mit im ungeheuren Rhythmus und geht sogleich ein in die Gemeinschaft der Heiligen, der alle Menschen angehören, die guten Willens sind und denen die Friedensbotschaft verkündigt wurde; in die unsichtbare Kirche, von der wir wissen, daß Heiden, Häretiker, Schismatiker und Ungläubige in sie aufgenommen werden, deren Namen niemand kennt außer Gott.

Aus: „Nos amis, les Saints“, ein Vortrag, gehalten vor den „Petites Soeurs de Chartes de Fourcauld“ in Algerien. (Gallimard 1953).

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