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Vergessene Leuchtfeuer

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Zufällig gerät ein Prospekt in meine Hand, in dem eine sechsbändige Ausgabe der Werke von Ortega y Gasset zu einem Vorzugspreis angekündigt wird (98 DM, öS 725-, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart). Aber wer spricht noch von Ortega y Gasset? Wer erzählt noch von den aufregenden, geistreichen, vorausschauenden Büchern dieses spanischen Zeitkritikers und Philosophen? Seine große Zeit war vor dem Zweiten Weltkrieg und nachher in der Phase des Aufbaus nach den katastrophalen Zerstörungen. Mit seinen, ein neues Europa und dessen Voraussetzungen entwerfenden Gedanken gab er den damals Überlebenden eine erste Orientierung nach den chaotischen Zusammenbrüchen und euphorischen Siegen in Ruinen. In seinem „Aufstand der Massen" hatte er schon 1931 den Ausbruch einer grauenhaften „Barbarei" vorausgesagt und sowohl den Faschismus von Mussolini als auch den Nationalsozialismus Hitlers mit vernichtenden Argumenten verurteilt. „Um einen Goethe von innen bittend" erregte Aufsehen, wurde viel diskutiert, jedoch von den politischen Ereignissen weggeschwemmt. Erst nach dem Krieg tauchten sie wieder auf, vermehrt um Schriften wie „Gott in Sicht", „Was ist Philosophie?", Über die Jagd", „Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst", „Der Mensch und die Leute". Was damals ein entscheidender Vorzug war, erwies sich später als gewaltiger Nachteil: seine Bücher waren brillant geschrieben und auf geradezu spannende Weise für jeden Laien verständlich. Sehr bald nämlich hatte Ortega die inzwischen herangewachsenen Seminarphilosophen samt ihren Assistentenscharen gegen sich. Deren exklusiver Jargon in absurdem Gemisch mit linken Parolen und Phrasen mußte eine derart elegante und klare Prosa zur Seite drängen. Ortega fiel der zunehmenden Deformation und Sprachverwirrung rund um 1968 zum Opfer. Gerade die Lektüre von Ortegas Schriften läßt heute erkennen, welche Dimension und Wirkung die damalige Kulturrevolution hatte. Die nachfolgende „Postmoderne" steigerte nur noch die Verwirrung, indem sie diese zum Inhalt machte. „Unter der Maske seiner Zukunftsbezogenheit tut der Fortschritt nichts für den kommenden Tag." Unsere Zivilisation habe unendlich viele Talente, meint Ortega, nur nicht das Talent, diese zu nutzen.

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