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Verlag um Mitternacht

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Als Frankreich aus allen Wunden des Geistes und der Seele blutend am Boden lag, hatten auch die Literaten und Verlage des Landes ihre Fahnen gesenkt und manche sich den Fremden zugesellt. Nur eine kleine, auserlesene Gemeinschaft schloß sich in schmerzvoller Erstarrung schweigend zusammen und blieb in wilder Trostlosigkeit beieinander .. . Nach der Erstarrung kam hilfloses Gestammel, zügelloses Verfluchen . . . das allmählich einer tiefinnerlichen Besinnung auf sich selbst wich. Sie standen zueinander, die wenigen, aus denen bald mehr und allmählich viele wurden. Sie standen zueinander in der selbstverständlichen Einigkeit großer Ideen, die der Vaterlandsliebe entspringen. Sie wurden alle zur leuchtenden Fackel der Geistigkeit ihres Volkes. Da war zwei großen Künstlern Frankreichs die Idee gekommen, sich geistig gegen den Druck der Fremdherrschaft zu stellen und diesen auffangend Neues und Großes aus sich selbst heraus zu schaffen.

Jean Brülle r, der bekannte Graphiker, war es, der als Erster seine Freunde zu diesem Bund des Geistes aufrief... und selbst gedrängt von seiner reinen großen Idee unter die Schriftsteller ging, zu deren größten er heute gezählt wird. Er und Pierre deLescure gründeten in stillen nächtlichen Stunden eine heimliche Verlagsanstalt, die, trotz strenger Überwachung und Verbote der Besatzungsmacht, an die Herausgabe von Werken schritt, die erheben, bestärken, erhärten und verbinden sollten, was übriggeblieben war an Frankreichs eigenster Tiefe und Größe.

Der Pariser Drucker Aulard schloß sich oll Hingebung und Tapferkeit der Sache Jean Brullers und Pierre de Lescures an und sah viele Monate lang einer großen Gefahr gefaßt ins Auge. Denn sie waren nicht ungeschickt, nicht faul, die Feinde, solchen Verbindungen nachzuspüren und es blieb nicht unbemerkt, daß Bücher hergestellt und vertrieben wurden, die nicht eine deutsche Zensur passiert hatten.

Da war die zarte durchgeistigte Gestalt Yvonne Desvignes, die mit weiblicher Grazie und männlicher Intelligenz sich der Sache zur Verfügung stellte, die ihr so heilig war, daß sie ihr alles opferte und unzählige Male durch die nächtlichen Straßen von Paris schlich, eine Anzahl Bücher in den Armen tragend, deren Binden und Verbreitung sie übernommen hatte.

Aber es lohnt der Mühe. Ihr Erscheinen wird bei den Freunden mit Jubel und Begeisterung begrüßt. Sie übernachtet, wo sie gerade die Notwendigkeit des Couvre feu, der Sperrstunde oder eine besondere Gefahr antrifft. Sie ist aller Freunde Freund und alle Türen tun sich vor ihr auf und schließen sich hinter ihr mit tausend unsichtbaren Riegeln.

Pierre Lescure hat den ernsten großen Schriftsteller und Freund Jacques Debü-Bridel für die Sache gewonnen. Ihm folgen Jean Paulhan und Paul Eluard... damit aber steht die Zelle des Verlages, der um die mitternächtlichen Stunden in den verschiedensten Druckereien der großen Stadt heimlich seine Werke setzt und druckt, mandimal ohne daß es dem Eigentümer der Druckerei persönlich bekannt ist. Einmal kam ein neues kleines, unscheinbares Büchlein wieder auf dem dunklen Weg all seiner Artgenossen heraus und wurde bei einer abendlichen Zusammenkunft stolz und wehmütig von Hand zu Hand gereicht. Yvonne Desvignes gab es selbst einem Mann, der neben ihr saß und es nun bewundernd und zugleich leicht erschauernd wog und sagte: „Oh, wie ich euch alle bewundere und um eueren Mut beneide. Mir selbst aber dünkt es zu gefahrvoll und nicht sinnreich genug, um sich selbst und sein Unternehmen dafür zu riskieren. Ein wenig Geduld und ein wenig Zurückhaltung und wir werden all dies wieder öffentlich und unter uns herausbringen können . . . !“

Ein Schweigen war damals durch den Raum gekrochen und die Gefahr schien einen Augenblick lang überwältigend groß und gegenständlich mitten unter ihnen zu stehen. Dann aber zerstob das Gespenst der Kleingläubigkeit vor einem Lächeln Yvonne Desvignes — sie neigte sich langsam ihrem anderen Nachbarn zu und kaum hörbar formten ihre Lippen den Satz: „Er ahnt es nicht, daß wir gerade heute Nacht, zu dieser Stunde, in seiner Offizin den neuesten Band drucken, den ich in ein paar Tagen zu bringen hoffe!“

Mitternächtlich war die Stunde des Druckes, der Herstellung und Entstehung dieser Bücher und daher legte sich auch der Verlag, den heute ruhmgekrönten Namen „Edition de Minuit“ bei. Diese Bücher haben seither ihren Weg durch die ganze Welt gemacht, sind überall als die Boten des unsterblichen Geistes Frankreichs begrüßt worden . . . haben für Frankreich gesprochen, geworben und es aus der geistigen Erniedrigung allmählich wieder zur Höhe geführt. Sie haben die Unüberwindlichkeit innerer Freiheit und Menschenwürde und gedanklicher Größe dargetan. In finsterster Stunde leuchteten sie über dem geliebten Vaterland hin, mit dem Glanz und dem Licht, das die schwachen Hände einzelner Söhne hodihielten. Ehre und Gereditigkeit lag in guter Hut und die größten Schriftsteller Frankreichs schrieben in den Jahren 1940 bis 1944 nicht wenig Bücher, die in den Editions de Minuit zur Herausgabe kamen. Die angesehensten Namen, so ein Mauria c, Maritain, Aragon, Julien Benda, Jean Cassou, Claude Aveline, Jean Guehenno, Pierre Bost und natürlich Paul Eluard und P a u 1 h a n waren unter ihnen. Dreißig Dichter Frankreichs widmeten ihre Verse den Publikationen in den Heften der Chroniques de Minuit. Vercors aber, der einst nur der große Graphiker Jean Bruller gewesen war... schrieb als Leitsatz über Sinn und Zweck der Erscheinungen des Verlages die Worte:

„Vielleicht handelt es sich für uns heute vor allem darum, aus dem Gewimmel der Irrungen und Gewalttätigkeiten, die unserer Zivilisation fast das Leben gekostet haben, eine politische und soziale Ethik herauszulösen ... eine Methode des Denkens... die die unseres Schicksals sein soll!“

Das erste Buch, das in der „Edition de Minuit“ herauskam und einen ganz seltenen Erfolg errang, war auch das erste Buch, das Jean Bruller unter dem Pseudonym Vercors geschrieben hatte, „Le silence de la mer“, „Die Stille des Meeres“, hatte er es genannt.

Über Welten und Meere hinweg wurde es in die Herzen der Leser eingegraben und die, welche es nicht gelesen haben, kennen es doch, so viel wurde darüber gesagt. Zahllose Ubersetzungen und Ausgaben hat es erreicht. In England und Amerika wurde es immer wieder und wieder verkauft In Australien, Kanada. Schweiz, Algerien,Syrien, Türkei und Persien bildet es das Tagesgespräch. Es ist mehr als eine Dichtung, es ist zum Symbol der Unverwüstlichkeit des geistigen Frankreichs geworden.

Das Schönste dieser Dichtung aber ist, daß nicht Waffen des Hasses und der Verzerrung benützt, daß nicht Klüfte verbreitert und Abgründe vertieft wurden durch das Wort. Die schwerwiegende, traurige Wahrheit spricht für sich, spricht aus blutender Seele und weint die Tränen des Unabänderlichen. Vercors Buch eröffnet die Reihe der ihm nachfolgenden Dichter und Schriftsteller der Resistance Frankreichs. Es ist eine eigene Gruppe von Literatur, die sich der großen Vielfalt französischer Art ohne Beispiel anschließt und die zu einem engumrissenen Begriff in Frankreich und in der Welt geworden ist. Während die Tritte der deutschen Militärpatrouillen durch die Straßen von Paris hallten, klapperten in den Maschinensälen der Druckereien die großen Pressen und schafften für die Edition de Minuit.. . auch sie in völliger Hingabe an das Werk, dem die Gottbegnadeten ihre Worte liehen.

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