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Verstehen wir unsere Muttersprache?

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„Der Deutsche ist gelehrt, wenn er sein Deutsch versteht.“ Mit diesem Wort hat Goethe angedeutet, daß zum Verständnis unserer Muttersprache volksgeschichtliche Kenntnisse notwendig sind. Näher betrachtet, stehen für den Nichtgelehrten einem gründlichen Verstehen der Sprache zwei Hauptschwierigkeiten entgegen: vor allem der Umstand, daß sich die Bedeutung der Wörter im Laufe der Jahrhunderte ändert. Dies kann in verschiedener Weise geschehen. Wörter, die einst einen guten Klang hatten, mindestens keinen Tadel in sich schlössen, wirken, heute gebraucht, herabsetzend. Walther von der Vogelweide bezeichnet wip als der Frauen höchsten Namen: „wip tiuret baz dan vrouwe“; während Schiller die Würde der Frauen preist und die Weiber zu Hyänen werden läßt. Wer heute eine Frau etwa mit „Weib“ ansprechen wollte, müßte sich auf Abwehr gefaßt machen. Ähnlich verhält es sich mit der „Dirne“, die sich einst jede ehrbare Jungfrau gerne gefallen ließ. „Herr“ war einst als Anrede nur für den Adel gebraucht, er war der „Hehrere“) er sandte seine Vertreter in das „Herrenhaus“. Der „Pfaffe“ hatte keinen üblen Nebensinn, er wurde mit diesem Namen einfach vom Laien unterschieden.

Seltener als die Herabminderung der Wortbedeutung ist die Erhöhung. Den Wörtern Minister und Magister liegen die lateinischen Ausdrücke minus und magus zugrunde; der Minister war also geringer als der Magister, er war

nichts anderes als der Diener, heute ist er der größere Herr. Der Kanzler war ursprünglich der Vorsteher der Kanzlei beziehungsweise der Hüter der Gerichtsschranken, lateinisch cancelli. Der Marschall war nur ein Pferdeknecht, er hat es nun zum Feldherrn gebracht.

In zahlreichen Wörtern zeigt sich eine Verengung des Begriffsumfanges. Während mhd. horhgezite für jede festliche Veranstaltung gebraucht wurde, bedeutet nun „Hochzeit“ nur das Fest der Vermählung. Während „Buße“ früher jede Art Ausbesserung bedeutete (heute etwa noch in „Lückenbüßer“), ist es jetzt allein die Wiedergutmachung eines Vergehens. Der „fahrende Schüler“ der Zeit Hans Sachsens etwa wird sich, bei seiner Mittellosigkeit, kaum einer Kutsche oder eines andern Verkehrsmittels bedient haben, also hatte „fahren“ einen viel allgemeineren Sinn, nämlich jede Art von Fortbewegung. Es wurde und wird auch jede richtige Wall fahrt zu Fuß gemacht. In der Kirchensprache sind die Wörter Schöpfer, Erlöser, Versucher klare Beispiele der Bedeutungsverengung.

Fast ebenso zahlreich sind die Fälle der Begriffserweiterung: Als Kameraden bezeichnete man früher nur jene, die mitsammen eine Kammer bewohnten; der Kumpane teilte das Brot (lateinisch panis) mit einem andern, auch der Genosse setzt gemeinsames Genießen der Mahlzeit voraus. Wer mit jemandem „fuhr“, das heißt mit ihm reiste, war dessen „Gefährte“. Der Geselle teilt mit andern den Saal, hat aber jetzt die Bedeutung „Gehilfe“ angenommen. ■— Die umfangreichsten Begriffe sind „Ding“ und „Sache“. Einst bezeichneten sie die Gerichtsverhandlung beziehungsweise den Gerichtsfall, was noch immer in ,Sachwalter“ und „Widersacher“ zu erkennen ist. Ein böser Fall war eine böse „Sache“; „dingfest machen“ as für das Gericht festnehmen, verhaften. Man sagt, aller guten Dinge sind drei“, weil der Angeklagte dreimal vor die Volksversammlung geladen wurde. Allmählich verblaßte die ursprüngliche Bedeutung von „Ding“ und „Sache“, und in „Ursache“ und „Tatsache“ merken wir nichts mehr von einem Streit oder einer Verhandlung, einigermaßen noch in „Bedingung“ und „dingen“ (jemand in Dienst nehmen), weil zum Inhalt dieser Begriffe ein Verhandeln gehört.

Die Sprache gefällt sich in der Anwendung von Ausdrücken in übertragener Bedeutung und macht davon in weitestem Maße Gebrauch, so sehr, daß viele dieser Metaphern erstarrt sind und nicht mehr als solche gefühlt werden. Niemand denkt bei den Wörtern hegen, behüten, deuten, gehören an: mit einem Hag umgeben, mit einem Hut bedecken, dem Volk (ahd. diot) verständlich machen, auf jemanden hören — oder bei „geschmeidig“, „überflüssig“ an leichte

Schmiedbarkeit, an überlaufendes Gefäß. Wer denkt bei „erfahrenen“ und „bewanderten“ Leuten an solche, die viele Länder durchfahren und durchwandert haben?

Die zweite Hauptschwierigkeit, den in den Wörtern liegenden ursprünglichen Sinn zu erkennen, liegt in dem Umstand, daß man sich in früheren Jahrhunderten reichlich der lateinischen Sprache bediente und heute noch viele lateinische Ausdrücke als Fremd- oder als Lehnwörter zu unserem Wortschatz gehören. Sie haben oft eine lange Entwicklung hinter sich, wie etwa das Wort „Bursche“ aus dem lateinischen „bursa“ • (Haut, Fell, später Täschchen). Obwohl das Volk gerne fremde Ausdrücke sich mundgerecht formte, gebraucht es noch eine Anzahl lateinischer Wörter in der reinen ursprünglichen Form, so: servus (das dem wienerischen „g'scham* ster Diener“ entspricht), stante pede, extra, quasi; von semper (immer) bildete es „sempern“ (jemand ansempern Sfi unablässig bitten). Dagegen ist ihm lateinisch simile (ähnlich) in dem unsterblichen „Amtsschimmel“ nicht mehr bewußt; es arbeiten aber viele nach einem „Schimmel* (Muster).

Auch aus anderen Sprachen und fernen Ländern haben wir viele Sachen und zugleich deren Namen übernommen. Sie beweisen den weltweiten Verkehr der Völker untereinander, besonders seit der Entdeckung der „Neuen Welt“ und der großen Welthandelsstraße durch Vasco da Gama. Aus Südamerika erhielten wir die Kartoffel; über Spanien und Italien kam sie nach Deutschland mit dem Namen tartufolo, umgeformt zu „Kartoffel“. Dieser Name gründet sich auf die Ähnlichkeit mit der Trüffel (tartufola), die wie der Erdapfel unter der Erde wächst, übrigens hat Italien diesen Namen eingetauscht gegen patata, der von dem kartoffelreichen Haiti kam. (Auch englisch potato.)

Wie die Obstnamen Pomeranze, Apfelsine, Orange den Handelsverkehr illustrieren, sei hier nur angedeutet: indisch narang, italienisch arancia, in Verbindung mit poma (Apfel) pomarancia, deutsch Pomeranze. Die Franzosen machten aus arancia in Anlehnung an or (Gold) Orange. Die indische Pomeranze ist bitter; die süße stammt aus Südchina, von wo sie durch die Portugiesen nach Europa gebracht wurde; es war der Apfel aus China (auch Sina), niederdänisch appelsine, also die Apfelsine. — Nicht weniger interessant ist die Entstehung der Namen Pfirsich1 (malum persicum) und Aprikose (vom lateinischen praecox = frühreif) oder Marille (von armenilla, armenische Pflaume).

Schließlich sind auch viele Redensarten ohne die Kenntnis alter Sitten und Gebräuche in ihrem Wortlaut kaum verständlich; es stimmt auch ihr Sinn von heute nicht mehr ganz mit dem ursprünglichen überein. Hieher gehören Wendungen, wie „einen Denkzettel geben“, über jemand „den Stab brechen“, „einen Korb bekommen“, zu deren Verständnis eine kleine Kulturgeschichte notwendig wäre.

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