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Digital In Arbeit

VON DER LINIE

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Ich hätte zu einer Menge von Themen, die sich mir aufdrängen, mein Wörtchen zu sagen. Ich halte mich grundsätzlich davon zurück. Ein bestimmter Interessenbereich dient mir als Gehege, und es hieße vom Hundertsten ins Tausendste kommen, würde ich es verlassen. Wo würde ich einhalten können? Ich würde den Malern gleichen, die ihr Bild auf dem Rahmen fortsetzen (und warum nicht gar auf der Wand, auf dem ganzen Haus?), oder den Zigeunergeigern, die vom Podium heruntersteigen, von Tisch zu Tisch spielen und ebensogut auf der Straße weiterfiedeln könnten.

Sjeit mehreren Jahren halte ich mich vom Roman fern, in einer Epoche der vielbändigen Romanwälzer und einer Leserschaft, die ganfce Kapitel überspringt und sich nicht mehr ohne Müh' und Schweiß in die Abenteuer der anderen einzufühlen vermag.

If meinen Stücken und in fast allen meinen Büchern habe ich ständig versucht, ohne Familiennamen auszukommen. Mir sind sie so unangenehm wie eine zudringliche Aufforderung, fremden Leuten ins Haus zu fallen. Ich wartete darauf, von zwei Beschäftigungen in Beschlag genommen zu werden, von einem Film, der für mich ein Jungbrunnen sein sollte, und von einem Buch, wie ich's in meiner Tasche mit mir zu tragen gewünscht hätte, als ich noch sehr jung und sehr einsam war. Ich habe den Film gedreht, und ich verfasse das Buch. Es ist eben dies Buch, an dem ich schreibe.

Nach dem zweiten Teil des „Faust“ erklärte Goethe, er habe sein Lebenswerk abgeschlossen, und sein weiteres Schaffen sei ein reines Geschenk des Schicksals. Mich will bedünken, daß ich meine Schüssel gründlich ausgekratzt habe und daß nichts mehr auf dem Boden verbleibt. Täusche ich mich, dann um so besser! Trifft es zu, werde ich mich nicht grämen. Die Leute pflegen zu sagen, wir seien ausgepumpt, während sie von unserem Werk in Wahrheit nichts wissen. Sie kennen von ihm einige Brocken, die sie für das Ganze nehmen, und lauern auf die Fortsetzung, ohne den Anfang gelesen zu haben. Aber werde ich glücklich die Daumen drehen und zuschauen, wie meine Arbeit Wurzeln schlägt, ihre Zweige der Sonne zu entfaltet und ihren Schatten über mich breitet? Man stelle sich nicht vor, das Anliegen, das mich lenkt und leitet, sei ästhetischer Natur. Es hat ausschließlich mit der Linie zu tun.

Was verstehe ich unter der Linie? Das Leben. Eine Linie muß in jedem Punkt ihres Verlaufs so lebendig sein, daß man den Künstler noch mehr herausspürt als das Modell. Die Allgemeinheit urteilt nach der Linie des Vorbilds, ohne zu begreifen, daß ie zugunsten der Linie des Malers zurücktreten kann, falls diese ein eigenes Leben lebt. Darum verstehe ich unter der Linie die lieh unbeirrbar behauptende Persönlichkeit. Denn die Linie findet man bei Renoir, Seurat, Bonnard, bei allen, in deren Tupfen und Flecken sie sich aufzulösen scheint, ebenso wie bei Matisse oder bei Picasso.

Beim Schriftsteller hat die Linie den Vorrang vor Inhalt und Form. Sie zieht sich durch die Worte, die er zusammenfügt. Sie ist eine anhaltende Note, die weder dem Auge noch dem Ohr erkenntlich ist. Sie ist gewissermaßen der Wesensstil, und wenn diese Linie in sich zu leben aufhört und sich nur als Arabeske abzeichnet, ist das Wesen abwesend und das Schriftwerk tot. Darum wiederhole ich immer und immer wieder, das geistige Fortschreiten des Künstlers sei einzig und allein maßgebend, denn die Linie büßt ihre Spannkraft ein, sobald die geistige Glut erlahmt. Man werfe jedoch geistige Entfaltung und Tugendwandel nicht in einen Topf. Der moralische Fortschritt besteht lediglich in zunehmender Verhärtung.

Unsere Linie behüten und fördern hat augenblicks unsere Therapeutik zu sein, wenn wir sie geschwächt fühlen oder wenn sie sich spaltet wie ein krankes Haar. Man erkennt sie, auch wenn sie keinen Sinn ausdrückt. Und würden unsere Maler Kreuze auf ein Blatt zeichnen, könnte ich zuverlässig sagen, von wem ein jedes stammt. Und werfe ich nur einen Blick in ein noch unaufgeschnittenes Buch, so weiß ich bereits, wes Geistes Kind es ist.

Allzu viele heften ihren Blick nur auf das, wovon diese beredte Linie umhüllt ist. Man erblickt sie um so weniger, je sichtbarer sie ist, da man sich nun einmal daran gewöhnt hat. nur ihren umkleidenden Zierat zu bewundern. Man bringt es fertig, Ronsard einem Villon, Schumann einem Schubert, Monet einem Cezanne vorzuziehen.

Was also können sie von Erik Satie erfahren, bei dem die Linie auf hinreißende Art bloßliegt? Oder von Strawinsky, der einzig und allein darauf ausgeht, sie lebendig zu häuten? Sie begeistern sich für die Draperien Beethovens und Wagners. Sie sind darnach außerstande, hier die weiß Gott recht aufdringliche Linie zu erblicken, um die sie die Draperien schlingen.

Man wird mir entgegenhalten, daß ein Mensch nicht sein Skelett zur Schau stelle, ohne auf ruchlose Weise gegen die guten Sitten zu verstoßen. Aber die besagte Linie ist ja gar kein Skelett. Sie spricht aus Blick, Tonfall, Geste, Gehaben, aus dem gesamten Habitus einer leiblichen Person. Sie zeugt fÜT eine die natürliche Beschaffenheit lenkende Kraft, über deren Sitz die Philosophen sich nicht zu einigen vermögen.

Wir haben sie schon herausgespürt, noch ehe eine Musik, ein Gemälde, eine Statue, ein Gedicht zu sprechen anheben. Sie ist's, die uns aufwühlt, wenn ein Künstler sich zum Bruch mit der sichtbaren Welt entschließt und seine Formen zwingt, ihm zu gehorchen. Denn mag die Musik auch nicht zur Schilderung gezwungen erscheinen, so ist sie es doch insoweit, als sie dem ähnelt, was der Komponist zu sagen beabsichtigt. Keine Kunstgattung kann so viel dummes Zeug, so viel Plattheit von sich geben. Und weicht der Komponist von den Hörgewohnheiten ab, so verärgert er das Publikum nicht weniger als Maler und Dichter.

In der Musik erlaubt ein sonst seltenes Phänomen, die körperlose Linie anders als mit Hilfe eines zusätzlichen Sinns zu erfassen. Dies tritt ein, wenn sie in einer Melodie Gestalt gewinnt, wenn sich eine Melodie dem Verlauf der Linie so vermählt, daß sie sich mit ihr vereint.

Als ich mit Strawinsky am „Ödipus Rex“ arbeitete, durchstreiften wir die Meeralpen der Riviera. Es war im März. Mandelbäume blühten auf den Hängen. Eines Abends, als wir in einer Landschenke haltmachten, zählten wir aus dem „Faust“ die Melodien auf, mit denen Gounod sich selbst übertraf. Sie gemahnen an Traumvorgänge. Unser Tischnachbar erhob sich, stellte sich vor. Es war der Enkel des Komponisten. Er erzählte, Gounod habe diese Faust-Melodien geträumt und sie beim Erwachen aufgeschrieben.

Ist das nicht so etwas wie eine Erweiterung der Fähigkeiten, die uns gestatten, im Traum zu fliegen? Auf eben diese Fähigkeit anspielend, erklärte Rechtsanwalt J. M. Sert (von dem man fast alle Altssprüche zitieren müßte), daß man im „Faust“ die Liebe empfinde und im „Tristan“ die Liebe begehe.

Diese ideale Linie zeichnet uns das Leben berühmter Männer nach. Sie zieht sich durch ihre Taten und fädelt sie auf. Sie ist fraglos die einzige Eindeutigkeit, die den falschen Perspektiven der Geschichte standhält. Dem Geist springt sie in die Augen, noch ehe sich das Gedächtnis einmengt.

Diese Linie ist es auch, die der Graphologe aus einer noch so künstlich maskierten Handschrift herauszulesen versteht. Je mehr sie sich maskiert, desto mehr entlarvt sie sich selbst. Denn die Schuldgründe der Verkünstelung erhöhten die Zahl der Beweisstücke.

Mag eine gewisse liebenswürdige Buchhändlerin mir auch vorwerfen, ich begnüge mich damit, die Fahne aufzupflanzen, und überlasse den anderen das Risiko, so besteht meine Linie doch aus Zusammenstoß und Wagnis. Die Dame würde bei näherem Hinsehen bemerken, daß ihr militärischer Vergleich zum mindesten verdächtig ist. Geht man nicht zum Sturm vor, wie könnte man sonst die Fahne aufpflanzen? Die Befürchtung, zum Angriff immer weniger tauglich zu werden, rät mir ja gerade an, meinen

Laden zu schließen. Aber solange ich noch gut bei Fuß bin, wird es mir unmöglich sein, nicht die Vorposten aufzusuchen und mit ihnen über das, was sich dort vorne tut, zu schwatzen.

Durch mein Werk zieht sich, im ganzen genommen, eine kämpferische Linie. Eigne ich mir, wie zuweilen geschah, die Waffen des Gegners an, so mache ich sie während des Gefechts zu den meinen. Man beurteilt sie auf Grund dessen, was sich mit ihnen erzielen läßt. Der Gegner hätte sich ihrer eben besser bedienen sollen.

Spreche ich von meiner gelegentlichen Waffenaneignung, so spreche ich nicht von meinem Schreibwerk, sondern von Plänkeleien, in deren Verlauf eine blitzschnelle Volte mir erlaubt, gegen meinen Widersacher die Waffen zu wenden, mit denen er mir zu Leibe rückte.

Und so rate ich den Jungen: Guckt doch den hübschen Frauen die Methode ab, und pflegt eure Linie, zieht das Schlanke dem Feisten vor! Und beobachtet euch nicht in einem Spiegel, sondern beobachtet kurzweg euch selbst!

Aus „Die Schwierigkeit zu sein“, Verlag Kttit Desch, Wien

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