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Von gespenstischer Aktualität...

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Im Rückblick erweist sich der im Westen, nicht in China, halbvergessene Boxeraufstand des Jahres 1900 als würdiger Auftakt des Jahrhunderts. Die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene „Andere Bibliothek” des Eichborn Verlages widmet ihm das jüngste ihrer in schön gemustertem Papier gebundenen, bibliophilen Bändchen. In diesem Gewände, das eher ein Märchen erwarten ließe, kommt ein Bericht voll Entsetzen, Schandtaten, aber auch psychologischer Rätsel daher.

Der Engländer Peter Fleming, dessen Bruder den James Bond erfand, schrieb „Die Belagerung zu Peking” 1959, auch die Übersetzung (Alfred Günthe, Till Grupp) ist von damals. Doch die Wiederentdeckung hat gespenstische Aktualität. Schlägt der Boxeraufstand doch einige der düsteren Leitmotive des 20. Jahrhunderts an. „Boxer” ging auf eine Verballhornung von i-ho-t'uan, Gesellschaft für Rechtlichkeit und Eintracht, zu i-ho-ch'üan, Fäuste der Rechtlichkeit und Eintracht, zurück. Sie waren eine Reaktion auf den Kolonialismus, aber auch eine Reaktion auf die Korruption der Regierung und auf von außen kommende Veränderungen. Opfer wurden Missionare, Priester, Ordensleute und christliche Chinesen. Zehntausende Männer, Frauen und Kinder wurden hingemetzelt.

Diese bäuerliche Reaktion von unten wurde von der die Regentschaft ausübenden Kaiserin Witwe, einer unmenschlich und oft irrational handelnden Herrscherin, instrumentalisiert - besser, sie versuchte, sie zu instrumentalisieren. Darin sind die späteren Instrumentalisierungen europäischer Ressentiments erkennbar. Heute geht man damit vielleicht professioneller, aber kaum viel weise/ um. Doch auch in den militärischen

Fehlern der Europäer und ihrem späteren Verhalten als Sieger stecken Lehren für später, die weder gezogen wurden noch werden.

Das Buch kann jedem ans Herz gelegt werden, ist freilich auch eine bestürzende Lektüre - die Belagerung der Botschaften in Peking wurde kaum je so eindringlich geschildert. In einer Hinsicht freilich verlief der Boxeraufstand atypisch. Boxer und kaiserliche Truppen hätten die Botschaften problemlos einnehmen können — wäre nicht der Oberkommandierende Jung Lu gewesen, der die grauenhaften Folgen für China erkannte und die nötige Artillerie unter Verschluß hielt. Darunter funkelnagelneue moderne Krupp-Kanonen aus Deutschland.

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