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Vor Dünkirchen

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Wollte man aus der populärsten Darstellung einer Wesensspaltung, aus der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, den Arzt und Menschenfreund herausschneiden und nur den Untermenschen sein Wesen treiben lassen, so würde man der Verbreitung des Buches sicherlich keinen Dienst erweisen. Viele Darstellungen des zweiten Weltkrieges leiden an einem ähnlichen Mangel kontrapünktlicher Effekte: niemand, der mit offenen Augen durch die Welt gegangen ist, wird leugnen wollen, daß der deutsche „Mr. Hyde" übermächtig war, instinktiv aber sucht man seinen Gegenpart, und wenn man vernimmt, daß für einen der Angeklagten der letzten Nürnberger Prozesse Männer wie Lord Halifax, Franfois-Poncet und Brüning als Entlastungszeugen angeführt werden, so dürfte dies solchen Gefühlen nur heuen Auftrieb geben.

Drei Jahre sind nun nach Beendigung des Krieges vergangen, und überraschend schnell scheint das Interesse an der geschichtlichen Turbulenz, an Fanfarenstößen und Weltuntergang in Permanenz erloschen zu sein. Müdigkeit, Resignation, die Sucht, zu vergessen, oder mangelnde plastische Schau als Folge der „Unholdsperspektive“? Die ersten Gründe mögen in dem einen oder anderen Fall zutreffen, die Flächenhaftigkeit der Darstellung, einer Seite aber wirkt sicherlich ermüdend; kurz, was die Verleger gern drucken würden, sind deutsche Memoirenwerke, und da der Nachfrage keinerlei Angebot . gegenübersteht, erscheinen immer wieder Fälschungen auf dem Markt. Das ist der Boden, auf dem Legenden wachsen, hier ist gefährliches Rohmaterial für allerlei dubiose Ehrenrettungen. Je später man erwähnt, daß es neben Görings Kunstraub auch eine Sorge um die Kathedrale von Chartres gegeben, neben dem „Einsatzstab Ost“ auch vereinzelt heroische Versuche, das Los der Zivilbevölkerung etwas erträglicher zu gestalten, desto sicherer wird einmal mit solchen „Entdeckungen“ Unfug getrieben werden.

In. diesem Augenblick erscheint nun bei Cassell in London das Buch des führenden britischen Militärschriftstellers Liddell Hart, „The Other Side of the Hill“ Die andere Seite des Hügels, in dem die Ereignisse des zweiten Weltkrieges so dargestellt werden, wie sie die deutschen Generale gesehen haben. Obgleich die Zielsetzung letzten Endes subjektiv ist, liegt hier ein erstaunlich objektives Buch vor, das in seiner vornehmen Zurückhaltung angenehm auffällt. Man ist gewöhnt, daß einem die Sensation bereits vom Buchumschlag entgegenspringt, hier stellt man erstaunt fest, daß dem Leser in ruhiger Bescheidenheit ein Material unterbreitet wird, das wichtige Augenblicke des zweiten Weltkrieges, vor allem der Schlacht um Dünkirchen, in einem neuen Licht erscheinen läßt. Die angewandte Methode war, nicht nur die erbeuteten Dokumente zu studieren, sondern auch in monatelangen Gesprächen mit den deutschen Feldherrn und ihren Generalstäblern unzählige, immer wieder miteinander verglichene Teilstücke zusammenzutragen, bis ein klares Gesamtbild entstand. An der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln, erübrigt sich angesichts von Methode und Beweismaterial; manchmal scheint einem allerdings die Ritterlichkeit des Verfassers, der offen zugibt, ein wenig unter Rundstedts Charme zu stehen, etwas weit zu gehen. Zu einer militärischen Darstellung gehört beispielsweise di Behandlung der Kriegsgefangenen, nicht sosehr, weil sie an der Ostfront unmenschlich war, sondern weil sie die Moral der Truppe beeinflußte und den Widerstandswillen des Gegners stärkte. Auch im Zusammenhang mit dem 20. Juli sind gewisse ein wenig peinliche Fragen nicht angeschnitten worden, obwohl sie zur Sache gehört hätten.

Nachdem Liddell Hart einleitend mit wenigen und sicheren Pinselstrichen Porträts der deutschen Generale, von denen er Mannstein und Rundstedt für die größten hält, entworfen hat, wendet er sich ihrer Einstellung zu Hitlers Krieg zu. Erstaunlich, aber in Nürnberg dokumentarisch belegt, wie skeptisch sie von Anfang an gewesen, erstaunlich, wie sie überall und immer Unheil gewittert, sich aber nie über die Methode, es abzuwenden, einigen konnten. Mochten ihre Tresors auch voll von Aufmarschplänen gewesen sein, man fragt sich unwillkürlich: „Ward je in solcher Laun’ ein Angriffskrieg geführt?“ Selbst den Erfolg, den vollen Erfolg des französischen Feldzuges hielten sie für höchst unwahrscheinlich, diese „traurigen Generale“, diese „Zweifler und Zager“, deren technisches Können so groß war. Und doch war in wenigen Wochen die „grand armee“ zertrümmert, das BEF über den Kanal geworfen und, wie wir nun von Liddell Hart und den Generalen vernehmen, war selbst die Evakuierung aus Dünkirchen nur durch einen taktischen Fehler Hitlers erleichtert, wenn nicht gar ermöglicht worden.

Demnach wäre, wie schon oft gemunkelt wurde, das „Wunder von Dünkirchen“ nicht nur dem Wagemut der britischen Jagdwaffe und der Einsatzfreudigkeit der Evakuierungsflotte zu verdanken, sondern auch einem schwer erklärlichen Zögern deutscherseits, die Lage mit der gewohnten Rücksichtslosigkeit auszuwerten. Man wird sich erinnern, daß der Feldzug mit einem Vordringen des rechten Flügels begann, dem die Engländer und Franzosen das Gros ihrer schnellen Truppen entgegenwarfen. Der rechte Flügel war jedoch nur die Mantilla des Stierkämpfers, die wahre Gefahr kam aus den Ardennen, den Degen hielt Rundstedt und er zielte auf das Herz Frankreichs. Durch die schmalen Täler des Grenzlandes wälzte sich eine Panzersäule, die, auf einer Straße aufgefahren, bis nach Ostpreußen gereicht hätte, durchbrach die nicht vollendeten Befestigungen und erreichte in überraschend kurzer Zeit ein Gebiet, das für den Bewegungskrieg wie geschaffen ist. Kaum war dies geschehen, schwenkte sie in die Richtung des Ärmelkanals ein: Guderians Panzerkorps drang nach Calais vor, das Reinhardts nach St. Omer und Dünkirchen. Am 22. Mai war Boulogne abgeschnitten, am nächsten Tag Calais, gleichzeitig erreichte Reinhardt den Aire-St.-Omer-Kanal und stand zwanzig Meilen vor Dünkirchen, dem letzten Hafen, der den Engländern zur Verfügung stand. Damit waren die deutschen Panzer näher an Dünkirchen als die Hauptmacht der englischen Expeditionsarmee.

Aber — sie besetzten Dünkirchen nicht, sie — warteten drei Tage, obwohl sie weder Treibstoff- noch Munitionsmangel hatten! Warum? Auf höheren Befehl, auf Befehl des OKH, auf Befehl Hitlers. Rundstedt hatte sofort protestiert, Halder war ebenfalls der Meinung, der Vormarsch sei fortzusetzen, Hitler aber telegraphierte: „Die Panzerdivisionen haben sich in mittlerem Artillerieabstand von Dünkirchen zu halten. Erlaubnis wird nur für Aufklärungs- und Verteidigungsbewegung erteilt.“ Trotz solchem Befehl entschloß sich Kleist zu weiterem Vormarsch. Er drang in Hazebrouck ein," wO sich der englische Oberbefehlshaber aufhielt, und durchschnitt dii britischen Rückzugslinien. Neuerlich erreichte ihn ein noch kategorischerer Befehl Hitlers. Auch Thoma, der mit seinen Panzern in der Nähe von Bergues stand, sah bereits den Hafen von Dünkirchen vor sich liegen und Wurde später zurückgedrängt.

Das Ende der Geschichte ist bekannt. Natürlich hat Liddell Hart versucht, Hitlers Entscheidung zu erklären. Die möglichen Beweggründe werden einem vorgeführt, ohne daß der Autor eine Entscheidung aufdrängt. Zunächst gab es tak tische Gründef: ein so schneller Vormarsch ist immer mit’ Risken verbunden, die erst im nachhinein ungebührlich verkleinert erscheinen. So verursachte ein heftiger britischer Gegenangriff südlich Arras in Richtung Cambrai beträchtliche Bestürzung im OKH: einen Augenblick schien die Gefahr zu bestehen, daß die Panzer abgeschnitten würden. Der auf englischer Seite kommandierende General Märtel konnte seinen Erfolg jedoch mit den schwachen Kräften einem Teil der Northumbrischen Division und dem 4. und 7. königlichen Tankbataillon, die ihm zur Verfügung standen, nicht ausnützen und die gefährliche Situation ging vorbei. Ferner schien Hitler vor dem sumpfigen Gelände Bedenken gehabt zu haben, um so mehr, als es klar wurde, daß sich hier heftige Kämpfe mit den Briten abspielen mußten, die, wie es schien, entschlossen waren, jeden taktischen Vorteil wahrzunehmen.

Indes kann es auch sein, daß politische Motive mitgespielt haben. Hitler hatte am 24. Mai eine Besprechung in Rundstedts Hauptquartier, bei der er wieder einmal seine „englische Laune“ an den Tag legte und vor Blumentritt Rundstedts IA und Soldenstern mit Bewunderung vom englischen Weltreich sprach, das „zusammen mit der katholischen Kirche“ einen stabilisierenden Weltfaktor darstelle. Blumentritt ist nun der Meinurig, daß er fürchtete, die Vernichtung des BEF würde für England eine Schmach bedeutet haben, die die Aussichten eines raschen Friedens zunichte gemacht hätten. Mit anderen Worten: Blumentritt nahm an, daß die Ribbentropsche Auffassung noch immer etwas Kredit besessen hatte und Hitler noch immer hoffte, Churchill werde; von einem gefügigeren Nachfolger abgelöst Werden, der bereit wäre, neuerdings von „peace with honour“ zu sprechen, wie einst im Oktober Herr Chamberlain.

Vielleicht wird man fragen; Was soll hie- mit bewiesen werden? Nun, zunächst .gar nichts. Vor allem nicht, daß Hitler den Krieg hätte gewinnen können. Eine solche Behauptung würde einen einseitigen, nur militärischen Standpunkt vöraussetzen, während die zerstörende Eigengesetzlichkeit der Partei, selbst wenn eine „napoleonische“ Pause eingetreten wäre, ihrem inneren Wesen nach die peripheren, . seebeherrscjhenden.’ Mächte zu einer wirklichen Entscheidung herausfordern mußte. Ist die Frage nicht falsch gestellt? Sollen historische Tatsachen nur berichtet werden, um dieser oder jener Ansicht zu dienen? Oder ist das angehäufte Material nicht am ehesten einem Bergkegel zu vergleichen, in den von verschiedenen Seiten aus Stollen getrieben werden, die, richtig angesetzt, sich in der .Mitte treffen müssen, so daß sich Rundblicke nach allen Seiten ergeben? Eine andere Auffassung gliche einem sich geistig „Einigeln“, das sich an den engen Ausschnitt eigener Erinnerung und Meinung klammert, von dem oft nur ein Schritt zur Engstirnigkeit und Ranküne ist.

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