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Was ist der Mensch?

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Wir sprachen an diesen beiden ersten Abenden noch über viele andere Dinge, zentrale und andere, mehr am Rande liegende. So von der Verstaatlichung, von der ungeheuren Verlockung der Macht um ihrer selbst willen, von der Anonymität, in die die „Manager“ heute entgleiten, von der wachsenden Schwierigkeit, eine einmal ausgelöste Entwicklung zur Totalität abzubremsen; Historisches und einzelne aktuelle Streitpunkte, wie die Schulfrage, blitzten gelegentlich zu kurzen, heftigen Scharmützeln auf und wurden wieder beiseitegelassen. Aber eine zentrale Frage tauchte immer wieder auf, erwies sich in ungezählten Zusammenhängen als die letzte Entscheidung und wurde schließlich am dritten Abend ganz ausführlich zur Diskussion gestellt: die Frage nach dem Menschen.

Wir brauchen den jungen Sozialisten, die uns in diesem Kreis gegenübersitzen, nicht erst beweisen, daß der Mensch mehr ist als „geprägte Materie“, der Geist etwas anderes als deren „Kehrseite“; so ist hier ein echtes Gespräch möglich — das sich schnell auf die uralte Entscheidungsfrage nach der Erb-sündlichkeit des Menschen zuspitzt. Kann der Mensch allein, nur aus eigener Kraft, gut sein? Kann er also selbst sich das „Paradies“ schaffen? Unsere sozialistischen Freunde sind längst nicht mehr so optimistisch in der Beantwortung dieser Frage wie die Generationen ihrer Väter; sie sehen das unbegreiflich immer wieder aufbrechende Böse, erfassen es als eine Realität, mit der gerechnet werden muß; sie glauben nicht mehr so recht an das Paradies -r- „ein auskömmliches Leben und ein bescheidenes Glück für die Mehrzahl der Menschen“ (wörtlich so!) ist so ziemlich alles, was sie sich im besten Fall erwarten. Aber hinter all den furchtbaren und unbegreiflichen Dingen in dieser Welt wollen sie nicht den Bösen sehen, Und das hindert sie, die letzten Konsequenzen aus ihren Einsichten zu ziehen — so daß sie schließlich doch wieder in alten Bahnen bleiben: man muß die Menschen nur entsprechend erziehen, meinen sie,- dann wird es schon gehen. Und vor allem: man muß die wirtschaftlichen Bedingungen ändern ... Mit einer seltsam anmutenden Starrheit wird dieser Grundsatz gehalten: zuerst die Wirtschaft und nur die Wirtschaft, dann

— später — mag Zeit für den Menschen sein. Die unabdingbare Notwendigkeit des Zugleich in dieser Frage können sie nicht sehen. Hier ist endgültig der Punkt, wo unsere Wege sich scheiden.

Und doch ist es wieder hier, beim Menschen, wo wir uns in anderer Weise am nächsten kommen und wo wir einen gemeinsamen Ausgangspunkt finden: die unantastbaren Grundrechte der menschlichen Persönlichkeit — das Recht auf Freiheit des Geistes und des Leibes, auf Besitz, auf freie Berufswahl, auf Arbeit und ihren Ertrag, auf das zum Leben Nötige —, ja das Lebensrecht jeder menschlichen Persönlichkeit, auch des Alten und Kranken, auch des Kindes im Mutterleibda der Vortragende diesen Punkt streift, sehe ich, wie die junge So-zialUtln mir gegenüber zustimmend nickt

(sie maturiert in diesen Tagen und wird im Herbst Physik studieren; ein Mädchen mit einem guten Gesicht — bestimmt anders, als die meisten Leute —-Christen —, mit denen ich gelegentlich darauf zu sprechen komme, sich die „Sozi“ vorstellen); ja, in allen diesen Punkten sind wir uns einig, selbst dort, wo es gegen die Parteilinie geht. Hier ist die Stelle, an der weitergebaut werden muß.

Ist das der ganze Erfolg von drei Abenden Diskussion? so ist man nun vielleicht versucht, zu fragen. Als einzige Gemeinsamkeit: diese primitivsten Grundlagen?

Ist es aber nicht auch wieder sehr viel, wenn man sich in so grundlegenden Dingen einig findet? Ist damit nicht, hüben und drüben, die Stelle gefunden, an der die Brücke gebaut werden kann?

Und noch eines: kann man „Erfolge“ hier überhaupt messen? Einer von uns sprach es am Ende der letzten Diskussion aus: „Es wäre wohl zuviel verlangt, von einigen Abenden, in einem Kreis wie dem unseren, große Ergebnisse zu erwarten. Und die Entscheidungen fallen anderswo, ohne daß wir darauf Einfluß haben. Vielleicht ist aber einer unter uns, der in zwanzig Jahren mit sein Wort spricht bei den Entscheidungen, die dann reifen werden — und wenn dem auch nicht so sein sollte: am Heranreifen dieser Entscheidungen ist keiner von uns unbeteiligt. So dürfen wir wohl vertrauen, daß manches aus diesen Abenden noch lange weiterwirken und vielleicht noch spät seine Frucht bringen wird.“

Das ist eine Hoffnung, die wir aus dem Erlebnis dieser drei Abende mit uns nehmen dürfen. Ist es erst recht, wenn man am andern Tag die Zeitungen zur Hand nimmt und erkennen muß, wie weit wir trotz allem, was an diesen Abenden gesprochen wurde, noch davon entfernt sind, die Brücke zwischen uns Wirklichkeit werden zu sehen. So wollen wir für jetzt wenigstens die Stelle nicht vergessen, an der sie einmal stehen könnte.

So Gott will, werden wir einmal, Kameraden hüben und drüben, die Brücke bauen. Heribert Wenninger

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