Wenn Ausbeutung zur Normalität gehört

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Anton Thuswaldner über einen Zeitroman aus den 1920er Jahren, der bis heute (leider) nicht an Aktualität verloren hat.

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Anton Thuswaldner über einen Zeitroman aus den 1920er Jahren, der bis heute (leider) nicht an Aktualität verloren hat.

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Als Tageszeitungen noch Fortsetzungsromane brachten, erschien in der Salzburger Wacht, einem Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, im Jahr 1924 „Johanna“ von Fritz Rosenfeld. Dort passte die Milieustudie, die ein Frauenschicksal der 20er Jahre in den Mittelpunkt rückte, auch hin, war doch der Verfasser ein typischer Vertreter des „Roten Wien“, den die soziale Misere der Zwischenkriegszeit aufstörte. In Österreich hielt es den 1902 geborenen Kritiker und Schriftsteller nicht lange. Nach der Niederschlagung des Februar aufstandes von 1934 emigrierte er in die Tschechoslowakei, 1939 nach Großbritan nien, wo er 1987 verstarb. Dass sein Name heute kaum jemandem ein Begriff ist, darf als einer der so vielen Skandale bezeichnet werden, die den Literaturbetrieb seit 1945 ausmachen. Es ließe sich leicht eine Literaturgeschichte der in die Vergessenheit Gestürzten füllen.

Dem Klagenfurter Germanisten Primus-Heinz Kucher ist zu verdanken, dass der Roman des Zweiundzwanzigjährigen, dessen Anfänge so hoffnungsvoll ausfielen, mit einer Verspätung von 96 Jahren jetzt zum ersten Mal in Buchform erschienen ist. Nicht, dass wir es mit einem Meisterwerk zu tun hätten, aber Joseph Roths frühem Roman „Das Spinnennetz“ mag man es durchaus an die Seite stellen. Beide Bücher wollen der Öffentlichkeit die Augen öffnen für Zustände im Land, die, weil sie sich im Verborgenen ereignen, den anständigen Bürgern unbekannt bleiben. Also erzählt Rosenfeld von Johanna, die niemanden interessiert, weil sie still duldet und nicht aufmuckt. Aus solch einem Leben gestaltet Rosenfeld die Tragödie eines Untergangs. Das Mädchen kommt aus niedrigsten Verhältnissen, als sie zur Waise wird, wird sie lieblos herumgeschoben. Früh wird ihre Arbeitskraft ausgenutzt, sie wird missbraucht und verachtet, als Mensch sieht sie niemand.

Dem Roman ist Empörung eingeschrieben, wenn die Biografie eines Menschen abgehandelt wird, dem jedes Recht auf ein eigenes Leben genommen wird. Als Zeitroman fügt sich „Johanna“ in die Bewegung der „Neuen Sachlichkeit“, die in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts die düsteren Seiten der Großstadt ausstellt. Schuldzuweisung erfolgt nicht an einen Einzelnen, wenn das Verhalten der Täter auch verabscheuungswürdig geschildert wird. Sie nehmen sich eben heraus, was ihnen von der Gesellschaft zugestanden wird, und das geht nun einmal auf Kosten der von vornherein Unterlegenen. In einer Gesellschaft, die die Kluft zwischen den Schichten hinnimmt, geht Ausbeutung als normal durch. Was das im Einzelfall bedeutet, zeigt Rosenfeld in drastischen Szenen. Leider noch immer nicht Schnee von gestern.

Der Autor ist Literaturkritiker.

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