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Wie steht's mit der Vernunft?

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EINGRIFFE. Neun kritische Modelle. Von Theodor W. Adorno. 172 Seiten. — TKACTA-TUS LOGICO-PHILOSOPHICTJS. Von Ludwig Wittgenstein. 115 Seiten. Beide Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, IMS. Preis je 3 DM.

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EINGRIFFE. Neun kritische Modelle. Von Theodor W. Adorno. 172 Seiten. — TKACTA-TUS LOGICO-PHILOSOPHICTJS. Von Ludwig Wittgenstein. 115 Seiten. Beide Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, IMS. Preis je 3 DM.

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Vernunft kann auf zweierlei Art ihre Ohnmacht, sogar in eigener Sache, erklären. Sie kann vor den Ubermächten der Wirklichkeit kapitulieren, kann sich auf die letzte, die kritische Stellung zurückziehen und in Narrenfreiheit, aber nur noch ge-duldetermaßen, dem Geschichts-machtigen ihrer Zeit den Narrenspiegel vorhalten. Oder aber sie versucht sich in den Hausverstand zu retten, um also verkleidet im Büßergewand für die Hybris besserer Tage Abbitte zu leisten. Beides ist ihrer unwürdig, beides höchst vorläufig. Beides gehört seit dem Zusammenbruch des „deutschen Idealismus“ zu den vorzüglichen Äußerungen der Vernünftigen, die es nicht bleiben lassen können.

Von jener obgenannten Freiheit macht Theodor Adorno mit wechselndem Geschick, wenn auch durchweg mit dem ihr zustehenden Emst, Gebrauch. Wo er, im engeren Sinn philosophische Themen behandelnd, Existentialismus und Positivismus ins Gebet nimmt, dort leuchtet, stellenweise, souveränes Denken auf. Die Bemerkungen sind wohlfundiert, sie haben Rang und Ansehen. Wo er sich hingegen soziologische und zeitgeschichtliche Gegenstände kritisch vornimmt, verfällt er leider ins Gerede und in jene falsche Brillanz, die vom edlen Stein den Glanz, nicht aber die Härte und den seltenen Wert hat. Das mag nun sowohl an den Gegenständen als auch an dem liegen, der eich um sie bemüht, dennoch drängt sich, kaum verhohlen, die Frage auf: Was soll's denn mit dem Kritisieren? Ist die Lage so hoffnungslos, wie sie beschrieben wird, dann ist es mit Eingriffen, die wenig mehr als Nadelstiche sind, keinesfalls getan. Ist sie aber nicht verfahren, ist die Katastrophe durchaus nicht unausbleiblich, dann sind von „Reformatoren“, bei denen es beim Kritisieren bleibt, keine richtungweisenden Taten zu erwarten. Den Untergang zu verkünden, wenn andere vielleicht schon dabei sind, den befreienden Anfang zu machen, ist eine fragwürdige Prophetie.

Bei Adorno fragt sich aber auch noch anderes. In nahezu jedem seiner neun Aufsätze ist vom „verdinglichten Bewußtsein“ die Rede. Wie verhält es sich damit? Ist dieser Begriff mehr als ein Schreckgespenst aufgeklärter Professoren, die zwar nicht an Spuk und Geisterei, wohl aber an die Subtilitäten, die ihnen ihr eigener Geist vorgaukelt, glauben? Sollte unsere Zeit vom „verdinglichten Bewußtsein“ bedroht sein, so hätte sie wohl nicht einmal mehr Gelegenheit, mit Anstand vor die Hunde zu gehen. Es wäre selbst dafür schon zu spät, sie ginge an Hirngespinsten zugrunde! Völlig unhaltbar, weil geboren aus dem Mangel an Perspektive, sind Sätze, in denen dem Leser allen Ernstes nahegelegt wird, nach Auschwitz sei nur solche Kunst authentisch, in der „das äußerste Grauen nachzittert“. Es wird nichts weniger der Gegenwart unterstellt als die kulturelle Aporie; ein ungebrochenes Verhältnis zum ästhetischen Bereich sei nicht mehr möglich, die (nach dem Krieg) auferstandene Kultur scheinhaft und widersinnig. Derartige Vorwürfe treffen hart, und sie fallen mit voller Wucht auf jene zurück, die sie erheben. Unsere Zeit zur aporetischen zu dekla-9to Tft Tsdo %täjistit rieren, die Ausweglosigkeit zu predigen, das hört sich von aporetischen Geistern so an, als würden Leute, die nicht sprechen können ohne zu stottern, behaupten, der Mensch sei ein stotterndes Wesen. Alle Stotterer werden zustimmen, doch was machen die anderen? Außerdem: unsere Zeit mag durchaus aporetischer sein als vorhergegangene Zeitalter, die Ausweglosigkeit drückender lasten als je zuvor: was gilt's? Vielleicht trägt unsere Zeit überhaupt mehr aus als fühere Zeiten. Ist es nicht voreilig, zu urteilen, ja zu verurteilen, ist es nicht kleinmütig, zu zweifeln, ja zu verzweifeln, bevor man noch über Anfänge hinausgekommen ist? Sind wir berufen, per Bausch und Bogen zu verwerfen? Wer zu Neuem bestimmt ist, der wird hart angefaßt — was heute noch als Zusammenbruch erscheinen möchte, kann morgen schon der Aufbruch sein. Noch ist es nicht an der Zeit, Weltgericht zu halten.

Vernunft in Sack und Asche — so präsentiert sich die Philosophie bei Ludwig Wittgenstein. Die Anliegen sind die alten, doch fehlt das Selbstvertrauen. Bescheidenheit ist dort von Übel, wo sie durch ein Gefühl der Unfähigkeit aufgezwungen erscheint. Das Denken, auf die Logik reduziert, soll für allzugroße Überheblichkeit büßen. Philosophie als Logik und sonst nichts, bedeutet für erstere selbstauferlegte Kerkerhaft. Sie hat dabei allerhand Ungemach zu ertragen. Denn Philosophie, als Logik betrieben, gerät in die beengendste von allen Aporien. Es kann nicht gut gehen. Um überhaupt bestehen zu können, muß Logik weit mehr philosophische Voraussetzungen machen, als Philosophie logische. Logik hat aber den großen Nachteil, sich keinerlei Rechenschaft über Richtigkeit oder Irrigkeit dieser Voraussetzungen geben zu können. Philosophie aufs Geratewohl ist die Folge, auch wenn sie auf den ersten Blick äußerst wissenschaftlich aussieht. Wo Wittgenstein in seinem logischen Traktat philosophiert, geht es auch prompt schief. Das abschreckendste Beispiel ist wohl die Erkenntnistheorie, weil sie sich immanent widerlegt Dazu braucht es nur Logik. Einmal heißt es: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Wir machen uns Bilder der Tatsachen. Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände. Was das Bild darstellt, ist sein Sinn.“ Dann heißt es: „In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung des (Bild-)Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit. Um zu erkennen, ob das Bild wahr oder falsch ist, müssen wir es mit der Wirklichkeit vergleichen.“ Was soll also Erkenntnis sein? Erfolgt sie durch Bilder, dann wissen wir leider nie, ob sie wahr ist, weil wir ja stets nur Bilder und keine Wirklichkeit haben. Das wäre wenig sinnvoll, nebstbei ist, scheinbar, in diesen Dingen frisch gewagt schon halb gewonnen, man sagt eben, Wahrheit bestehe in der Übereinstimmung der Bilder mit der Wirklichkeit. Solange man sich dabei nichts denkt, klingt das fast nach Lösung, fängt man jedoch an zu überlegen (und diese Mühe hat Wittgenstein sich offensichtlich erspart), wird alles widersprüchlich, und es stimmt nicht mehr. Nach dem erst Gesagten ist Erkenntnis eine Sache von Bildern, bei der Wahrheitsfeststellung müßte ich also Bilder mit Bildern vergleichen, von Wirklichkeit wäre keine Spur, von Wahrheit auch nicht. Nehme ich aber die zweite Behauptung beim Wort, daß Wahrheit die Übereinstimmung der Bilder mit der Wirklichkeit sein soll, so muß das wohl heißen, daß wir die Wirklichkeit so, wie sie ist, erkennen, auch ohne den Umweg über die Bilder. Wozu dann überhaupt der Bildchenzauber? Wozu noch Bildchen mit Wirklichkeit vergleichen, wenn man sich gleich an die Wirklichkeit halten kann? Wollen wir von Wittgenstein wissen, was Wahrheit sei, wir müssen seine Bildchen und damit jede konkrete Aussage darüber, was Erkenntnis sei, fahren lassen. Wollen wir wissen, was Erkenntnis sei, so kommen wir zum Schluß, daß es in ihr keine andere als eine Bildchenwahrheit geben könne. Wittgenstein hat aber beides zugleich behauptet, und darin liegt Verdienst! Denn mit seinen Feststellungen ist es ihm gelungen, auf knapp drei Seiten in bewunderungswürdiger Klarheit und Naivität seiner eigenen Erkenntnislehre, zugleich aber auch einem uralten, pseudophilosophischen Modell ein für allemal den Garaus zu machen.

Wittgensteins Abhandlung enthält eine Fülle logischer Untersuchungen, die nicht in Philosophie machen. Auf sie sei zum Schluß noch hingewiesen, denn in ihnen ist die Arbeit sauber und gewissenhaft. Die Logiker mögen sich mit Wittgenstein beschäftigen; für philosophisches Interesse scheint es nicht ganz zu reichen.

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