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Wiegendrucke

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Zu den mannigfaltigen Schädigungen auf kulturellem Gebiete, die der zweite Weltkrieg verursacht bat, zählt auch, abgesehen von teilweisen oder völligen Zerstörungen öffentlicher und privater Büchereien, die Unterbrechung der Arbeiten auf kaum abschätzbare Zeit, vielleicht auf immer, mit welcher die Wiegendruckkommission der preußischen Staatsbibliothek lange vor Hitlers Machtübernahme, betraut worden war. Ihre Aufgabe bestand darin, einen Gesamtkatalog aller Paläotypen ins Werk zu setzen. Das wichtigste Ziel dürfte wohl gewesen sein, Inkunabeln wieder aufzufinden, die als gänzlich verschollen gegolten hatten. Der erste Band erschien 1925, zuletzt wurde 1940 die erste Lieferung des achten Bandes ausgegeben: „Eike-Federicis”, Nr. 9565 bis 9730. Verzeichnet wurden sämtliche in Betracht kommenden Druckwerke Europas, die vor der Ostermesse 1501 hergestellt worden sind, und zwar vor allem die im Besitze irgendeiner Bibliothek der Welt, soweit mit den Staaten in diesem Belang eine Vereinbarung erzielt werden konnte. Auch privater Besitz wurde berücksichtigt, wenn es sich um besondere Seltenheiten handelte. War derselbe Druck in mehr als zehn Exemplaren vorhanden, so geschah nur ein summarischer Hinweis (zum Beispiel „österreichische Nationalbibliothek und andere Besitzer”). Man hoffte, im ganzen auf 60.000 Nummern zu kommen.

Vergleichsweise sei bemerkt: das Repertorium bibliographicum von Ludwig Hain, Stuttgart, 1826 bis 1838, verzeichnet nur 16.311 Inkunabeldrucke; die Ergänzungen zu Hain: Konrad Burger (1891 bis 1908), Walter Copinger (1895 bis 1902) und Dietrich Reichling (1905 bis 1914), schlagen zusammen noch weitere 15.000 Nummern hinzu. Nach einer völlig abgeschlossenen Arbeit der erwähnten Wiegendruckkommis- sion wäre demnach wahrscheinlich eine ungefähr verdoppelte Anzahl zur Aufzeichnung gekommen. Der General Catalogue of prin- ted books verzeichnet dagegen den Bestand des Britischen Museums an Inkunabeln und neueren. Werken, ist aber kaum über die Mitte des Alphabets hinausgediehen. Erwähnenswert dürfte sein, daß bereits eine zweibändige Ergänzungsschrift von Thomas Accurti in Florenz herausgekommen ist, die von mehreren hunderten im Gesamtkatalog der Wiegendrucke außer acht gelassenen Inkunabeln zu berichten weiß. In Frankreich beschäftigt sich mit den Wiegendrucken eingehend ein älteres Werk, „La France litteraire au XVe siede” — 1865.

Als Inkunabeln im strengsten Sinne gelten bekanntlich vor allem die sogenannten Holztafeldrucke. Der Grad der Bewertung der alten Presseerzeugnisse hängt im übrigen nicht nur von ihrem stofflichen Inhalt, vom Erscheinungsjahr, vom mehr oder minder berühmten Namen des Autors, selbst des Verlegers ab, sondern auch davon, inwieweit ein Buch infolge seiner Benützung und seines Alters gelitten hat. Künstlerisch ausgeführte Initialen, wertvolle Einbände erhöhen, den Wert, wie auch Erstdrucke eines Autors oder Verlegers und nicht zuletzt bebilderte Drucke ceteris paribus eine höhere Einschätzung erfahren. Die wichtigste Frage aber bei Beurteilung des Wertes solcher Drucke ist die nach der Vollständigkeit des Textes.

Während alle anderen angeführten Mängel und Schädigungen alter Druckwerke den gemeinsamen Nachteil beinhalten, daß sie eine gegebene Tatsache darstellen, die nicht wesentlich behoben werden kann, besteht bei Abgang von Teilen des Textes die Möglichkeit, daß sie durch zentrale Suchaktionen wiedergefunden werden können.

Gerade in diesem Punkt wäre auf die Arbeiten der erwähnten Wiegendruckkommission eine gewisse Hoffnung zu setzen gewesen. Als Beispiel sei der Privatbesitz eines Teiles von Heinrich Stein- höwcls „Tü’tscher Cronika”, gedruckt und herausgegeben im Jahre 1473 zu Ulm von Johann Zainer, herangezogen. Dieses Druckwerk hat zwar von einem ehemaligen, aber schon neuzeitlichen Eigentümer einen schönen braunledernen Einband erhalten, die Blätter sind samt dem Text — abgesehen von wenigen, kaum wahrnehmbaren Wasserflecken — merkwürdig gut erhalten, aber der vorhandene Bruchteil besteht nur aus den zehn Schlußblättern des seltenen, sehr gesuchten, in seiner Gänze auch nur 36 Blätter starken Werkes. Allerdings ist auch in diesem Falle das letzte Blatt, wie bei den ältesten Wiegendrucken zumeist,

wichtiger als die ersten, da es die Angaben über Drucker, Druckort und Jahr des Druckes enthält. Das beinahe neue Aussehen der zehn Blätter sowie der Umstand, daß Platz für die Initialen zwar ausgespart, aber ohne Bemalung belassen - erscheint, verleitet zu der Annahme, daß dieser Bruchteil allenfalls. aus einer noch nicht auf den Markt gekommenen Vorratsmenge stammen könnte, die durch ein unvorhergesehenes Ereignis lange Zeit oder überhaupt unbenutzt geblieben ist. Auch könnten Teile überschüssiger, nicht verkaufter Mengen, ehe sie Altertumswert erlangt hätten, als Makulatur für die Einbände späterer Bücher herangezogen worden sein, wie es ja zum großen Schaden für die Wissenschaft häufig geschehen ist. Angenommen, es wären bei solcher Gelegenheit ganze Stöße von Druckbogen dieser Cronika zwar nicht zerstört, sondern nur irgendwie, etwa vor Übergabe an den Buchbinder, ihrer Bestimmung entzogen worden, so könnten auch die fehlenden sechsundzwanzig, zu den hier vorhandenen zehn gehörigen Blätter derzeit irgendwo in einer Bücherei oder auch in Liebhaberhänden sein, allenfalls auch in ähnlich pietätvoller Gewandung. Man kann sich gut denken, daß ein Teil dieses Buches, vielleicht gerade der fehlende, bei der erwähnten Kommission des Gesamtkatalogs zur Anmeldung hätte gelangen können.

Nun aber dürfte leider eine Weiterarbeit der Kommissäre zur Schaffung eines Inkunabelngesamtkatalogs in absehbarer Zeit nicht zu erwarten sein. Vielmehr ging, wie auf vielen anderen Gebieten der kulturellen Betätigung, auch wohl auf diesem vieles unwiederbringlich verloren. Andererseits wurden vermutlich weitere Bruchstücke, auch von alten Drucken, geschaffen und sind verstreut oder haufenweise zurückgeblieben. So bleibt nur der Ausweg, einen gegenseitigen Austausch der Büchereien und Sammler mühevoll in die Wege zu leiten. Ein ähnliches Verfahren käme vielleicht auch bei dem ebenfalls unvollendeten Gesamtkatalog aller Drucke nach 1500 der deutschen Bibliotheken in Frage, dessen erster Band 1931 erschien und der seit Band 14 im Jahre 1939 bei „Bee” keine Fortsetzung mehr fand.

Die Absicht, zwei monumentale Rekordwerke auf bibliographischem Gebiet zu schaffen, die wahrscheinlich auch Gelegenheit geboten hätten, Bruchstücke zu vollen Werten zu vereinigen, ist im Dritten Reiche mitten in mühevoller Arbeit zerschlagen worden. Die bisherigen Früchte beider an sich großzügigen Unternehmungen sind also selbst, zum Schaden vor allem der Wissenschaft, nur minder bewertbare Bruchstücke geblieben.

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