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Zu beiden Seiten der Zeitmauer

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Ernst Jünger, Jahrgang 1895, Kriegsfreiwilliger seit 1914 — nachdem ihn der Vater aus der Fremdenlegion heimgeholt hatte — und vierzehnmal verwundet, 1919 bis 1923 bei der Reichswehr, darnach in „national-revolutionären“ Zirkeln tätig, geht

1933 in die innere Emigration, lehnt die Berufung in die Deutsche Dichterakademie ab und verbietet den Nachdruck seiner Schriften im „Völkischen Beobachter“: „damit über die Art meiner politischen Substanz auch nicht die Spur einer Unklarheit entsteht“. In den folgenden Jahren entwickelt er sich, obwohl er während des zweiten Weltkrieges wieder Uniform tragen muß, vom Soldaten zum Zivilisten, vom Aktivisten zum parteilosen Beobachter, vom Nationalisten zum Europäer. Über diese Entwicklung geben seine Schriften von 1920 („In Stahlgewittern“) bis zu seinem letzten Essay („Der Weltstaat“) Auskunft. Dazwischen liegen, als wichtigste Stationen: „Das abenteuerliche Herz“ (1929), „Der Arbeiter“ (1932), „Blätter und Steine“ (1934), „Auf den Marmorklippen“ (1939) und die lange Reihe essayistischer und autobiographischer Veröffentlichungen, die mit „Gärten und Straßen“ beginnt und mit „An der Zeitmauer“ vorläufig abgeschlossen ist.

Über diesen Weg läßt er bereits 1939 den Bruder Botho von den Marmorklippen sagen, „daß ein Irrtum erst dann zum Fehler würde, wenn man in ihm beharrt“. Zwar würde Jünger heute .kejneswfigs_...a|-geben, daß er „Fehler“ gemacht habe, sondern er steht zu jedem seiner Werke. Aber es ist doch eine exemplarische Entwicklung eines Deutschen zwischen den beiden Kriegen, ein Weg, den man jetzt an Hand der vom Ernst-Klett-Verlag in Stuttgart angekündigten Gesamtausgabe bis in die Gegenwart wird verfolgen können. Jünger hat diese Edition auch als Schriftsteller verdient, und für den interessierten Leser werden eine Reihe von Werken wieder zugänglich gemacht, die seit' Jahrzehnten nicht mehr greifbar waren. Außerdem wird die schön ausgestattete Ganzleinenausgabe durch mehrere Erstveröffentlichungen bereichert, die dem jeweiligen Thema des betreffenden Bandes eingegliedert sind.

Autor und Verlag haben sich nämlich für eine nichtchronologische, sondern gattungsmäßig-thematische Anordnung entschieden. Über ihre Vor-und Nachteile wird erst später zu urteilen sein. Die Ausgabe hat folgenden Plan: Band 1: Der erste Weltkrieg, Band 2 und 3: Strahlungen (mit „Jahre der Okkupation“), Band 4: Reisetagebücher, Band 5: Betrachtungen zur Zeit, Band 6: Der Arbeiter. Band 7: Das abenteuerliche Herz (beide Fassungen). Band 8: Außerzeitliche Betrachtungen, Band 9 und 10: Erzählende Schriften.

Der vorliegende erste Band dieser Gesamtausgabe - eigentlich der fünfte der vorgesehenen Reihe, enthält vier Essays aus der Zeit von 1922 bis

1934 und fünf Essays aus den Jahren 1941 bis 1960. Verweisen wir nur auf den ersten Essay dieser zweiten Abteilung: „Der Friede.“ Jünger entwarf diese lebensgefährliche Schrift 1941 und ließ sie seit 1944 in Abschriften und Typogrammen verbreiten. (Sie ist dem Andenken seines einzigen, 1944 bei Carrara gefallenen Sohnes gewidmet.) Hier zeigt sich,, wie übrigens auch im „Waldgang“ oder im „Gordischen Knoten“, daß Jünger nicht eigentlich ein politischer Denker ist, sondern daß er - wie es sein Biograph O. F. Paetel einmal formuliert hat — seine „metapolitischen Anliegen“ in Bildern vorträgt. Jüngers unentschiedene Stellung zu Nietzsche, Gnostischem, Christlichem, Germanisch-Mythischem usw. bedingt jene Sprünge und Brüche, an denen sein Werk so reich ist, und verleiht ihm jene, schillernde Farbe, die so viele fasziniert.

Das vorliegende, vorläufig letzte Buch Ernst Jüngers, „An der Zeitmauer“, besteht aus zwei Teilen: einem kürzeren ersten mit dem Titel „Meßbare und Schicksalszeit - Gedanken eines Nicht-astrologen zur Astrologie“, der zu Neujahr 1957 begonnen und innerhalb weniger Tage niedergeschrieben wurde, und einem zweiten, der den Haupttitel des Buches trägt, die Frucht jahrelanger Arbeit ist und als eine Summe der Jüngerschen Welt-Anschauung gewertet werden kann. Das ganze Buch ist in 186 kurze, meist nur ein bis zwei Seiten umfassende, zuweilen thesenmäßig formulierte Abschnitte eingeteilt, von denen der erste Teil nebst Einleitung nur 31 umfaßt. Anlaß dazu war „das massenhafte Auftreten von Horoskopen“, die bei der Betrachtung metahistorischer Zeiträume angeblich Vorteile bieten. Nun, darüber sind andere Leute anderer Meinung, zum Beispiel jene, die meinen, daß es sich hier nicht um viel mehr als um eine Spielerei handelt und an der Jünger im zweiten, gewichtigen Teil seines Werkes nur aus Freude an gewissen artistischen Wirkungen festhält, um verschiedene Gedanken bildhafter und poetischer formulieren zu können.

Halten wir uns also an die „Zeitmauer“. Gemeint ist jener Punkt, jene Grenze in der Menschheitsgeschichte, welche die geschichtliche Welt von der darunterliegenden, noch unerforschten, drohenden, freilich auch verheißungsvollen neuen trennt. Diese Schicksalssituation versucht Jünger zu durchleuchten, zu analysieren. Er tut dies, wie bisher, weder als Philosoph noch als Theologe, also nicht vom metaphysischen Standpunkt aus, sondern als Beobachter und Diagnostiker, der seine Fakten vor allem dem Gebiet der Naturwissenschaften (der Geologie, Paläontologie, Zoologie, Physik usw.) und der (politischen) Geschichte sowie verwandten Geisteswissenschaften entnimmt. Angestrebt — und vom (Leser gefordert — wird ein synoptisches Sehen, weniger ein philosophisches Durchdenken der Situationen und Probleme. Auch wo es sich um Themen wie die Gestalt des Moses (Kap. 75/76), die Furcht (Kap. 81/82 und 97) oder anderes handelt. An unzähligen Oberflächensymptomen wird nachgewiesen, daß wir uns am Ende der geschichtlichen Zeit befinden, ein Problem, das auch, von einer ganz anderen Warte aus beobachtet, Reinhold Schneider während seiner letzten Lebensjahre so sehr beschäftigt und verdüstert hat.

Man war nun sehr gespannt darauf, wie sich Jüngers Verhältnis zur Religion, speziell zu den Kirchen, weiterentwickeln würde. Im Ganzen sind philosophische, metaphysische und religiöse Themen weitgehend ausgespart. Aber auf den letzten Seiten lesen wir dann doch:

„Wenn die Kirche verhindert, daf! der Staat zum Monstrum wird, und wenn sie dem Einzelnen, besonders an den Wendemarken, den unermeßlichen und bis in die Tiefe des Universums reichenden Wert seiner Existenz bewußt macht, so erweist sie schon darin ihre unentbehrliche Macht.“ Jünger zitiert Bloy, dessen aufmerksamer Leser er seit vielen Jahren ist — daß das Volk bei einem heiligen Klerus fromm sei, bei einem frommen Klerus gut und bei einem guten Klerus infam —, und fährt dann fort:

„Man kann die Kirche in ihrer Spätzeit einem Kraftwerk vergleichen, das ehedem durch große Ströme gespeist wurde. Allmählich versiegt in den oberen Gebirgen das lebendige Wasser, doch gaben Seen und Reservoire noch Zufluß für lange Zeit, bis endlich es auch damit knapp wurde. Immerhin blieb das Kraftwerk als Bau bestehen, der auch bei den heutigen Unwettern Unterkunft und Schutz bietet.“

Nicht mehr. Das Verhältnis ist das einer kühldistanzierenden Höflichkeit, wobei meist von den „Religionen“, der „Weltreligion“ die Rede ist. Und Sätze, wie: „Aus ihnen (den Religionen) spricht mehr als menschliches Wissen, spricht jenes Gehörte, das jedem Gedanken vorausgeht, spricht Offenbarung, Damaskus, der Sinai“, hängen frei in der Luft.

Ebensowenig fundiert ist der Optimismus, in den die letzten Seiten dieses merkwürdig schillernden Buches münden und von dem es heißt, er sei „eine große Sache“: Jünger sieht in dem sprunghaften Ansteigen der Erdbevölkerung, in der Emanzipation der farbigen Rassen (aber er hatte das Beispiel Lumumbas noch nicht vor Augen!) „eine ungeheure Vermehrung des Potentials, wobei man das Wort sowohl quantitativ als auch biologisch und geistig auffassen darf“. Hierzu hat sich der 83jährige Hermann Hesse, der dem Jüngerschen Buch eine ausführliche, sehr anerkennende Besprechung gewidmet hat, folgendermaßen geäußert: „Wieweit Jüngers Dichtungen und Prognosen stimmen oder was von diesem oder jenem Standort aus Triftiges gegen sie vorgebracht werden kann, berührt mich nicht... Mir genügt es vollauf, an dieser Schau teilgenommen zu haben und fruchtbare Tage mit ihr verbracht zu haben.“ Ein Urteil, dessen Schlußsatz man zustimmen mag.

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