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Zur Literatur der Gegenwart

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In den Sommertagen des Jahres 1938 pflegten wir Gemaßregel.ten auf der Murpromenade des Schwimmschulkais zusammenzutreffen, um nach Aussprache über die brennendsten persönlichen Angelegenheiten verschiedene Zeitprobleme zu diskutieren, die gerade im Vordergrunde des allgemeinen Interesses standen. Gedankenfragmente wechselten mit dem geistigen Kleingelde von Aphorismen, hie und da brach ein Leitmotiv durch, das die Vorstellungskraft befeuerte und zwischen den Debatten verrieselte. — Später pflegten vorsichtigere Begegnungen oder Zusammenkünfte markantere Themen wieder aufzuwerfen und erneuter Aussprache zuzuführen. Neben den übermächtig wuchtenden Schlagschattien der damaligen ruhelosen Gegenwart hoben sich Ereignisse und Entwicklungen der letztvergangenen Jahrzehnte ungemein deutlich ab, pastellzart fügten sie sich zu einem Gemälde von schier zwingender Eindringlichkeit. Die meisten von uns schrieben damals und natürlich auch wiederholt später ihre Ansichten, Eindrücke sowie Gedankengänge in ihre individuell gehaltenen Tagebücher ein, die ängstlich verborgen, zugleich aber selten Hebevoll gehütet wurden.

Unter den vielen Problemen, die nur zu gerne angeschnitten und behandelt wurden, befand sich besonders Literatur als Ganzes, als kulturelle Einheit betrachtet, bald europäisch gesehen, dann in Zusammenhänge zu Nationen und ihren Stillepochen gebracht. Damals fiel wohl wiederholt schüchtern die Frage, ob es denn eigentlich auch eine selbständige österreichische Literatur gäbe. Und ob es besonderen Zweck habe, ein solches Sonderkapitel bloß für sich weiter zu verfolgen.

Die Meinungen darüber waren sehr geteilt und ließen sich auch nicht auf eine annehmbare Grundformel bringen.

Dessen entsinne ich mich gerade in diesen trüben Novembertagen so genau, weil die Augenblicksverhältnisse noch immer so viele akute Fragen unbeantwortet zu lassen belieben.

Doch scheint es an der Zeit, daran zu erinnern und in die Arena der Meinungsunterschiede einzutreten.

Man vergißt vielfach, daß geistige Strömungen, in Besonderheit literarische Richtungen oder gar etwa Revolutionen, über Ländern und ihren Völkern stehen, daß sie einstmals europäische, jetzt aber sogar überkontinentale Begebenheiten gewesen sind, beziehungsweise gerade vorstellen. Klassizismus, Romantik, Realismus und Naturalismus sind irgendwo zuerst aufgetaucht und dann unwiderstehlich gewandert, von der kulturellen Elite eines jeden Volkes auf seine höchst individuelle Art aufgenommen, erfaßt, verarbeitet und geschichtet.

Philosophen, Dichter und Künstler leisteten bis in das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die Pionierarbeit für soziale und nationale Veränderungen oder Gesellschaftsprozesse. Noch die große russische Revolution Lenins kann sich der Grundlagen durch die russischen Dichter und Schriftsteller rühmen. Mussolinis Faschismus schon nicht mehr, ihm blieb nur die phantasievolle Renaissance

der römischen Antike in staatspolitischer Ausbeutung vorbehalten. Der preußisch-deutsche Nationalsozialismus griff wohl auf Friedrich Nietzsche zurück, mußte sich aber doch auf Hitlers „Mein Kampf“ stützen, dem Rosenberg mit seinem „Mythus des 20. Jahrhunderts“ sekundierte. Machtgedanken in zielbewußter Synthese hatten Geist durch Materialismus zu ersetzen, das Ideelle vergangener Jahrhunderte durch das Propagandistische einer Neuzeit der Maschinen.

Wohl sind Machtsysteme gestürzt, ihre Spredter verstummt, doch das Propagandistische und die Maschinen sind geblieben und damit blieb auch alles Typische.

Die Weltkultur hat in den abgelaufenen Jahren wieder einmal einen ihrer unwiderstehlichen Vorwärtsschritte unternommen und Neuland gebracht, das ungewohnte geistige Situationen nach sich zieht. Hier halten wir jetzt.

Seien wir ehrlich in der Rückschau. Die großen Dichter und Schriftsteller um die Jahrhundertwende sind bis jetzt noch immer unerreicht geblieben. Seit dem Jahre 1914, also seit den letzten 32 Jahren, hat sie niemand mehr vollwertig abgelöst. Die Literaturgeschichte ist beim besten Willen nicht imstande, eine neue nachhaltige Stilperiode präsentieren zu können oder mit Namen aufzuwarten, die begabtes Epigonentum erfolgreich durchbrächen. Sämtliche Jupiterlampen vermögen keine Neuerer oder Revolutionäre des geschriebenen Wortes aufzuspüren, die den Jahren dieser Zeit ihren Schicksalsspiegel vor Augen hielten, die sich dann berufen fühlten, Gegenwartsmenschen zu zeichnen und ihre Stellung zu diesem Dasein zu schildern. Es handelt sich hier um eine Allgemeinerscheinung, die, nach Joseph Marx, auch in der Musik ihre Parallele findet.

Es fehlt, kurz gesagt, an jenem künstlerischen Subjektivismus, der durch seine kühne Gestaltungskraft die Masse des Kleinlichen auseinandersprengt und wieder ideelle Ziele setzt, neue Losungsworte ausgibt und Wegweiser in die Zukunft stellt. So leiden wir an der Auswahlqual von Epigonen, die immer an ihrer Gegenwart vorübergehen und keinen Ausweg finden.

Die österreichische Literatur bildet seit je ein Sonderkapitel der staatspolitischen Verworrenheit. Einst, in den Jahrhundertwenden des ersten deutschen Kaiserreiches universell eingestellt, wechseln je nach den außenpolitischen Ereignissen die ständigen Rücksichtnahmen und Stoffgebiete. Erst im Biedermeier kann sich Franz Grillparzer zum österreichischen Klassiker erheben, dem Raimund und Nestroy zur Seite stehen. Unter Franz Josephs langer Regierungszeit drängt sich die neuere österreichische Literatur bedeutungsvoll zusammen. Es ist, als wollte im endlich modernisierten und einigermaßen festgelegten Donaugroßstaate alles Geistige um die Wette sich entfalten, ehe eine nahe Zukunft Europa durcheinanderwirft. Ebner-Eschenbach, Saar, Wildgans, Schnitzler, Hofmannsthal, Rilke, Schönherr, Bartsch, Roseg-ger, Handel-Mazzetti, Bahr, Hoffensthail, Greinz, Grogger, Werfel, Henz, Brod, um nur die geläufigsten Namen zu nennen, blühen auf, Jungwien, der Prager Kreis, die Steirer, die Tiroler vereinen sich zu einer dichterischen Symphonie, in die noch viele Wort- und Ausdrucksspezialisten mit einstimmen.

Mit dem Ende der alten Donaumonarchie verblaßt keineswegs der Glanz dieser Dichtergeneration, doch ihr neuer Wirkungsbereich hinterläßt den Epigonen eine Fülle von Unsicherheiten und Unklarheiten. Staats- wie Volksbegriff des Österreichers sind bis auf den heutigen Tag im Dämmerlichte geblieben und haben bisher nie noch ihre eindeutige Klärung gefunden. Wir waren Habsburg-Österreicher, Ententerepublikaner und sind jetzt Zonen Österreicher. Der einzelne weiß nie recht, darf er an die Vergangenheit rühren, ohne als Monarchist, Austrofaschist oder Nationalsozialist zu gelten. Es gibt eine hemmungslos in ihrem Ablaufe gewertete Geschiohte des tschechischen Volkes, ebenso eine des ungarischen, kroatir sdien oder slowenischen, doch mit nichten eine solche des österreichischen. Darum entbehrt auch die österreichische Literatur in den letzten Jahren ihrer wahren Eigenart wie ihrer Selbständigkeit. Entweder ist die österreichische Literatur mit dem alten Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation verknüpft oder mit dem Schicksal der Donaumonarchie. Und schließlich schlüpfte sie in der gesamtdeutschen Literatur unter. Da halten wir jetzt. Vor neuem Kreuzwege und vor neuen Ufern. Volk mit gewissermaßen international rationiertem Siedlungsraum, in einem kriegsmäßigen Friedenszustand, der in unsicherer Schwebe erscheint und vielerlei Deutungen zuläßt. Wir rufen Grillparzer und andere teure Namen als Kronzeugen unseres wiederbefreiten Selbst an, verschlingen Emigrantenliteratur, soweit sie erreichbar ist, gewähren jedem von den Nationalsozialisten verboten gewesenen Literaten einen Ehrenweihrauch und warten auf das neue Österreich, das wir in den letzten Jahren so unbändig ersehnt hatten. In Gesprächen wie Tagebüchern. Auf jenes geistige Österreich, das mit der Literatur der Gegenwart gleichen, und zwar ebenbürtigen Schritt in die Zukunft hält.

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