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Wiedersehen mit dem Egerland

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DIE GRENZE LIEGT HINTER MIR. Links und rechts der Straße die üblichen Hindernisse an Ostblockgrenzen: Betonhöcker, spanische Reiter, Wachttürme und Stacheldraht. Bei Roßhaupt fliegen Ruinen vorbei. Nach den Erklärungen der im Omnibus anwesenden Sudetendeutschen, die bei Kriegsschluß hier noch in der Nähe wohnten, sind das keine Kriegszerstörungen. Es handelt sich offenbar um planmäßig zerstörte Grenzdörfer. Lieber Pfraumberg geht die Fahrt nach Großmeierhöfen, wo es von tschechischem Militär wimmelt, das staunend dem schönen deutschen Omnibus nachschaut. Die vielen Hauslücken in der Stadt Plan deuten darauf hin, daß schon manches baufällige Gebäude in der Zwischenzeit entfernt worden ist. Die Dörfer um Petschau sind zerfallen. Von Neudorf ist überhaupt nichts mehr zu sehen. Man sagt mir, daß es samt der Kirche von slowakischen Arbeiterbrigaden abgetragen worden sei. Eine Begründung dafür konnte nicht angegeben werden.

DANN KOMMT MARIENBAD. Sein Straßenbild beherrschen heute die Besucher aus dem Osten. Man sieht Russen, Chinesen und Koreaner. Die erste geschmackvolle Reklame nach Grenzübertritt findet sich am Bahnhof. Es ist ein Bild des Marienbader Brunnens mit einem Willkommgruß. Aber gleich daneben fordert das Plakat einer Frau in Lederjacke und Schaftstiefeln zum Eintritt in irgendeinen Männerberuf auf.

Panjewagen und große LKW bestimmen den Straßenverkehr der Bäderstadt. Man trifft nur wenige Personenwagen oder Taxi. Nicht kurstädtisch die heiseren Lautsprecher mit ihren . Kampfparolen und Kampfliedern. Aber die Menschen scheinen — nach ihren Gesichtern zu urteilen — diese Schallberieselung nicht mehr wahrzunehmen.

Wer Marienbad kennt, sorgt sich um das Schicksal der Museen und Denkmäler. Auf einem Stadtbummel können ' wir ilh's ’dätnäch umsehen. Das Goethe-Museum — wieder eingerichtet — wird von einem tschechischen Lehrer verwaltet. Die Stücke sind zum Teil doppelsprachig beschriftet. Wie früher steht noch das Denkmal des Kurortbegründers, Nehrs, in der Kreuzbrunnkolonnade. Auch das Standbild Abt Reitenbergers wurde nicht angetastet. Neu errichteten die Tschechen in Marienbad ein Stalin-Denkmal und einen Goethe-Gedenkstein. In Tschechisch, Französisch und Lateinisch berichtet der Gedenkstein, daß der Dichter bei seinen Kuraufenthalten in Marienbad mit tschechischen Dichtern und Künstlern Freundschaft gepflegt habe.

Auf der Weiterfahrt nach Karlsbad fallen mir immer wieder die leerstehenden Ortschaften auf. Tschechische Zeitungen berichten, daß nicht weniger als 200.000 Einfamilienhäuser leerstehen. Trotz der intensiven Kolonisationsbestrebungen der Tschechen, welche Neusiedler sehr begünstigen, verlassen diese nach kurzer Zeit wieder die Randgebiete und ziehen sich ins innere zurück.

ES IST 15 UHR, als der Omnibus vor dem einst in ganz Europa bekannten Grand Hotel „Pupp“, jetzt „Moskwa", in Karlsbad vorfährt. Rührende Szenen spielen sich beim Aussteigen ab. Deutsche Angehörige, denen bisher keine Ausreise gewährt wurde, erwarten ihre Besucher aus dem Westen, entweder aus der Bundesrepublik oder aus Oesterreich.

Das Hotel hat mehr als 500 Zimmer. Zunächst muß man sich mit Tschechenkronen ausstatten. Die Herren im Empfangsraum sprechen ein gutes Deutsch. Auch die Speisenkarte gibt in fünf Sprachen — Deutsch eingeschlossen — Auskunft. Auf den reservierten Tischen im komfortabel eingerichteten Speisesaal steht auch der Stander der Bundesrepublik. Die Spiegel an den Wänden sind jedoch matt. Die Ornamentik des Jugendstils bedeckt leichte Verfallspatina. Lieber die gestopften Teppiche gleiten Ober im Frack, die sehr zuvorkommend sind, nur keinem Deutschen in den Mantel helfen.

Das Essen ist üppig. Die Mehrzahl der ausgezeichneten Gerichte entstammt russischen Kochbüchern. Das teuerste kostet 35 Kronen (1 Krone= 1.80 S). In einiger Distanz liest eine Kellnerin den Gästen die Wünsche von den Augen ab.

Mit den ersten Tschechenkronen in der Tasche geht es nach dem Essen in die Stadt. Die Preise sind gesalzen, das stelle ich sofort fest. Zwei Eier kosten drei und eine Tafel Schokolade gar zwölf Kronen, lopo Kronen verlangt man für eine Armbanduhr mit 15 Steinen. Zwanzig gute Zigaretten kosten zwölf, und Bohnenkaffe bis zu 200 Kronen das Kilogramm.

Als Vergleich zu den Löhnen sei gesagt, daß eine Stenotypistin 600 bis 800 Kronen und ein Facharbeiter ungefähr 1300 Kronen im Monat verdient. In den Schaufenstern werben immer wieder alte deutsche Markennamen, obschon diese Artikel heute in der CSR hergestellt werden. Auf dem Platz vor der Mühlbrunnkolonnade wogt flanierendes Volk hin und her. Die, jetzigen Karlsbader sind noch mit einem gewissen Schick angezogen, aber die meisten Männer tragen keine Krawatte.

Auffallend viele der jetzigen Karlsbader sprechen recht ordentlich deutsch, sie hängen das nur nicht an die „große Glocke“. Zum Hotelinventar gehören befrackte Kellner, Stubenmädchen, Fahrstuhlführer und Türschließer. Trinkgelder anzunehmen verbietet offiziell der Proletarierstolz. Aber wenn’s niemand sieht, bekommt man einen tiefen, dankbaren Bückling dafür.

IN KARLSBAD GIBT ES WIDERSPRÜCHE. Während man uns vor der Reise durch das deutsche Reisebüro volle Bewegungsfreiheit in der ganzen CSR schriftlich zugesichert hatte und wir diese schriftliche Zusicherung allermeist bei uns haben, erklärte der Beauftragte des tschechoslowakischen Reisebüros, unser „Betreuer“, daß wir nur Abstecher in die nähere Umgebung Karlsbads machen dürften. Schöne Bescherung. Trotzdem verlasse ich anderntags am frühen Morgen das Hotel und stehe in'der Früh um 6 Uhr a m obere ’Bahnhof. Ich1 kann- ungehindert eine Fahrkarte nach Eger (dem jetzigen Cheb) lösen. Das Abteil ist vollbesetzt mit tschechischen Arbeitern. In der Ecke des Abteils liest jemand die deutschsprachige Zeitung .Berliner Zeitung“ (sowjetzonales Blatt). Als ich ihn anschaue, versteckt er sich hinter dem Blatt. Kein Zweifel — ein Deutscher. Aber er will es nicht zeigen, in dieser Umgebung wäre ihm ein Gespräch sicher nicht geheuer.

Noch 45 Minuten Fahrzeit, dann dampft der Zug in den Egerer Barackenbahnhof ein. Beim Verlassen des Bahnhofs vermißt der Besucher sofort die spitzen Türme von St. Niklas. Bei den Restaurierungsarbeiten nach dem Kriege wurden den ausgebrannten Türmen nur ein paar stumpfe Helme aufgesetzt. Nur der schlanke Turm der Franziskanerkirche ragt auch heute noch über die Dächer und -Giebel der alten Wallenstein- Stadt hinaus.

DIE ALTE STAUFEN- UND WALLENSTEIN- STADT EGER ist am Ende des Krieges durch amerikanische Bomben im Gelände des Bahnhofes arg mitgenommen worden. Die eigentliche Verwüstung und der Verfall der Innenstadt aber gehen in erster Linie auf das Konto der Invasion der sogenannten „Kolonisten" und der ihnen nachfolgenden und für die Ansiedlung bestimmten Zigeuner. So fielen diesem „Siegesrausch“ viele der mittelalterlichen Renaissance- und Barock-Patrizierhäuser aus der alten österreichischen Zeit zum Opfer, und die in diesen Gebäuden im Laufe von Jahrhunderten zusammengetragenen Kunstwerke wurden rücksichtslos geplündert.

Dazu kam, daß den neuen Bewohnern in den strengen Wintern keine Brennmaterialien zugeteilt wurden, worauf sie die Gebäude „ausweideten“. In den von eingewanderten Zigeunern bewohnten Gebäuden wurde das Feuer zum Teil auf den Steinfliesen der Flure und Küchen entfacht, was zur Folge hatte, daß nicht nur das Innere der Häuser, sondern auch die Fenster und Türrahmen von-dem abziehenden Rauch, ,angesch W.?t wurde. und - deshalb i wie nach einem Br?nd aussehen.

DER WIEDERAUFBAU VON EGER rief die sogenannte Egerer Bauhütte ins Leben, durch die nicht weniger als 200 Millionen Kronen aufgebracht wurden. Ich lenke meine Schritte auf den Marktplatz. Wohl sieht man wenigstens hier jetzt' — elf Jahre nach Kriegsende — Anfänge für den guten Willen der Tschechen. Aber wer die Stadt mit den schönen Patrizierhäusern noch von früher kennt, den überfällt eine tiefe Traurigkeit. Wo einst das pulsierende Leben von 3 5.000 Deutschen vorüberflutete, ist es still-geworden. Ich photographiere das Haus mit der Gedenktafel, aus der zu ersehen ist, daß hier einmal Goethe für einige Tage gewohnt hat. Sonst erinnert auf dem Marktplatz nichts, gar nichts mehr daran, daß Eger vor 14 Jahren noch eine deutsche Stadt gewesen ist. Zur Zeit befinden sich noch annähernd 500 bis 600 Deutsche in der Stadt.

In den Straßen Egers stößt man immer wieder auf Zigeuner kinder. In einem Trafikladen erstehe ich neben Zigaretten einige Postkarten, die in vorteilhaftem Licht die Wiederaufbauarbeiten am Egerer Marktplatz zeigen. Die Verkäuferin, eine alte Frau, spricht deutsch — wenn sie auch nach Worten ringen muß — und ist sehr freundlich. Sie fragt, ob ich „ausgesiedelt" worden bin. Ich verneine und frage meinerseits, ob sie schon lange hier sei: „Schon sär lange, seen (zehn) Jähre."

Zwischen den kirchlichen und pfarramtlichen Bekanntmachungen in tschechischer Sprache am Haupteingang der evangelischen Kirche (Friedenskirche) sehe ich endlich wieder ein Zeugnis dafür, daß hier früher deutsche Menschen ein und aus gingen. In die schöne, schmiedeeiserne Türklinke hat vor langer Zeit ein Kunstschmiedemeister in deutscher Sprache den schönen Spruch eingegraben: „Der Friede sei mit euch!“

DIE RESTLICHEN TAGE verbringe ich wieder in Karlsbad. Von Interesse dürfte sein, daß die nach dem Krieg als „kapitalistische Ausbeutung“ abgeschaffte Kurtaxe wieder eingeführt wurde. Sie beträgt für Privatpatienten 40 Kro nen monatlich, für Krankenkassenpatienten die Hälfte. Prospekte in allen Fremdsprachen wollen dem Besucher glaubhaft machen, daß die Tschechen die Gründer und eifrigsten Förderer der Bäder waren. Doch sind es sudetendeutsche Quellentechniker, Baineologen, Kurdirektoren, Forscher, Aerzte usw. gewesen, die das vor hundert Jahren schon bekannte österreichische Bäderdreieck Karlsbad-Marienbad-Fran- zensbad zu einem weltweiten, heilwirksamen und ehrenwerten Begriff gemacht haben.

WER HEUTE durch die Ironie des Schicksals als „Tourist die alte Heimat besucht, die er einmal in Nacht und Grauen verlassen mußte, wer das Glück der Erinnerung sucht und nun entweder schaudernd vor Ruinen steht oder gar im eigenen Haus vergeblich nach Menschen fragt, die ihm einst vertraut waren — der bleibt voll Verwirrung stehen, hält Ausschau nach dem, was noch Bestand hatte in dem altvertrauten Raum. Und da erkennt mancher noch den kleinen Waldweg, der wie einst in jedem Frühling neu erblüht. Da ist noch das gleiche Spiel von weißem Dunst und rötlichem Licht, wenn die Sonne hinter der blauen Kette des Erzgebirges verschwimmt.

Für jeden ist und bleibt ein Stück Heimat der alte Friedhof. Wenn auch viele deutsche Friedhöfe von Unkraut überwuchert und verwahrlost daliegen, unvergessen sind die in der alten Heimat gebliebenen Toten. Und da kann es sein, daß in den gemächlich verschwindenden Tag vom Turm der benachbarten Dorf- oder Stadtkirche der vertraute Ton der alten Abendglocke klingt, der allen Frieden verheißt, die guten Willens sind.

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