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Wiedersehen mit Piroschka

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An einem der ersten warmen Märztage fuhr ich mit meinem Auto ein wenig über Land. Ich kann nicht sagen, daß es eine besonders ausgewählte Ausflugstour war. Nein, nur ein wenig die milde Vorfrühlingssonne genießen und sich an der Tatsache des Autofahrens freuen.

Plötzlich kamen mir vor der Ortschaft Traiskirchen zwei junge Mädchen entgegen. Beide

\ nicht sehr elegant gekleidet, wohl aber adrett und sauber — und schon brachte ich jäh den Wagen zum Stehen. Das ist ja — natürlich, die eine dünkelhaarige war Piroschka. Meine Pirie, Begleiterin und Fremdenführerin durch Budapest und Stalinvaros 1955.

Wir waren beide sehr verlegen und wetteiferten geradezu im Zu-Boden-Blicken. Warum? War es nicht schön, einen lieben Menschen nach schweren Wochen in Ungarn in Sicherheit zu wissen? Konnte doch nun unser beider Wunsch, in Oesterreich vereint zu sein, ohne weiteres in Erfüllung gehen. Noch vor zwei Jahren war ich für dieses Ziel bereit, alle Parteistellen in Budapest unsicher zu machen, obwohl ich genau wußte, wie aussichtslos dieses Unterfangen sei. Und nun, da alles scheinbar so mühelos gelöst war, schien unsere Freude sehr gedämpft. Zuviel stand zwischen uns, der Studentin Piroschka Kossak und mir, dem ehemaligen Reporter.

Als ich 1955 nach Budapest kam — damals noch kommunistischer Reporter und Rundfunksprecher, dem Reisen in Volksdemokratien nichts Neues waren —, wurde mir Piroschka als Betreuerin zugeteilt. Sie sollte mir die Eindrücke verschaffen, die zum Schreiben einer neuen Sendereihe über Ungarn notwendig waren. Ich muß sagen, Pirie übte ihr Amt mit der ganzen Begeisterung und Gewissenhaftigkeit aus, der junge Menschen fähig sind. Vom Geliertberg, bis Hochöfen -Von -Stalinvaros, dem ehe-

- lflaljgeifc iBunapentele,: zeigte, eie', mir alles;' was sie mir zeigen durfte. Sie holte Genehmigungen ein, besorgte Autos und Essenmarken, hatte für jede Frage die vollkommen richtige „Parteiantwort“ und stellte auch die Bevölkerungsschichten zu Interviews, an deren Antworten in Wien nicht mehr „geschnitten“ werden mußte.

Piroschka hatte einen „Fehler“, sie war sehr hübsch. Und obwohl ich wußte, daß meine weitere Reisetätigkeit in die Volksdemokratien nicht zuletzt auch davon abhing, ob ich mich jederzeit „würdig“ benommen hatte, fand ich Gefallen an der reizenden Budapesterin. Da sie wieder Sympathien für mich zeigte, war die Sache, „parteimäßig“ gesehen, schlimm. Wieso eigentlich? Ich war doch ideologisch nicht in meinem, Romeos, Lager, sondern in Julias. Ich war der dankbarste Zuhörer, der nur Fragen stellte, deren Antworten von vornherein feststanden. Leider war Pirie eine ebenso gute Zuhörerin. Sie fragte über Oesterreich, über England, über Amerika. Nun konnte ich auch beim besten Willen nicht sagen, daß in diesen Ländern die Menschen nichts zu essen haben oder nur schlechte Kleidung tragen und in Baracken hausen. So östlich kann übrigens ein westlicher Kommunist nicht sein, daß er sich die Schadenfreude nehmen ließe, ein wenig von oben herab von den Autos, Kleidern oder Bauten im Westen zu reden.

Piries oder, besser gesagt, ihres Landes Entschuldigung für die nie fertig werdende Buda- pester Metro nahm ich ohne Widerrede zur Kenntnis; daß Stalinvaros wohl fast ein Dutzend Hochöfen hat, aber zuwenig Material, um sie mit Hochdruck arbeiten zu lassen, nahm ich gelassen hin. Es war mir nicht neu, ich war schon zu oft in Ungarn gewesen.

Pirie aber staunte über alles, was ich ihr ūbėr meine Heimat erzählte, auch über das Schlechte, weil auch das Schlechte anders war als sie es erklärt bekommen hatte. Daß der Kapitalismus, der Imperialismus, der gleiche Klassenfeind ... hier war unser Vokabular gleich, im Praktischen unterschiedlich.

Als die Heimatstadt Piroschkas durch die Furie des Krieges in Flammen aufging, war das Mädchen 15 Jahre alt gewesen. Sie verstand schon, daß die Erwachsenen vom Frieden träumten, von einer lichtüberschäumenden Margareteninsel, von Zigeunermusik und Gulasch. Sie sah Soldaten, die einen roten‘Stern auf der Mütze trugen und wohl nicht gleich den Frieden, wie ihn ihre Eltern meinten, brachten, aber immerhin den Frieden. Im Gymnasium lernte Pirie neben den mathematischen Lehrsätzen mit der gleichen Eindringlichkeit, daß Ungarn ein Teil des sozialistischen Lagers, daß im Westen die Agenten zu Hause und von dort der Krieg kommt. Ihre Welt erstreckte sich von der Schule über die Jugendorganisation zum Sommerlager in Szillabercs und zur Universität mit monatlich 30 Stunden Marxismus als Pflichtfach.

Ich kam aus dem Westen, hatte die harte Lehre des Frontsoldaten hinter mir und suchte den meiner Meinung nach radikalsten Weg gegen Faschismus und Krieg. Ich kannte beide Welten, Pirie nur ihre. Sie konnte mir nicht glauben, daß in meiner Heimat mit Kaprun ein gigantisches Stauwerk geschaffen wurde, daß Arbeiter am Sonntag mit eigenen Fahrzeugen ins Grüne fahren und ohne besondere Erlaubnis ihren Urlaub in Italien verbringen. Ich konnte beide Welten abwägen und eine zu leicht befinden.

Als wir in den glatten Häuserzeilen von Stalinvaros voneinander Abschied nahmen, versprachen wir, uns zu schreiben. Oft, jeden Tag, und vergaßen, daß man das in ihrer Welt nicht gerne sah. Nicht, daß man in Budapest annahm, ich könnte von Pirie per Postkarte die detaillierten Pläne der Sperrzone Süd erhalten; aber vielleicht hätte Pirie gefragt: „Was machst du? Wo bist du?“ Und hätte meine Ansichtskarte aus Caorle ihrer Freundin gezeigt, die gefragt hätte, warum „die“ dorthin können und sie nicht einmal in die befreundete Tschechoslowakei.

Nach zwei Briefen teilte mir Piroschka mit, daß es für uns beide besser sei, nicht mehr zu schreiben. Ich glaube, damals begann bei ihr die ungarische Revolution. Bei mir schlug die Waage gegen ihr Regime aus. Es dauerte lange, bis ich mit anderen darüber sprach, noch länger, bis ich handelte. Man könnte es Zufall nennen, daß Pirie und ich zugleich einen gewichtigen Schritt taten, ohne Brief.

Nun dürfte unserem Glück eigentlich nichts mehr im Wege stehen? Doch, Piroschka, du hast es selbst gemerkt.

Ich habe Piroschka am Rande der Triester Bundess traße.gef ragt, warum sie von zu Hause weggegangen ist. „Nun, weil eben soviel geschossen worden ist und weil doch Vater nun sowieso arbeitslos sei, und überhaupt." Sie sah in meiner Frage einen Vorwurf. Wir schämten uns wegen Stalinvaros und unserer Gespräche darüber, wegen unserer Definition von den Schwierigkeiten in der ungarischen Landwirtschaft, wegen Räkosi und Kadar. Wir wünschten uns viel Glück für den weiteren Lebensweg und gingen auseinander.

Piroschka ist heute in Oesterreich, wohnt in einem namenlosen Flüchtlingslager und wartet. Sie wartet weniger auf die goldenen Berge, die hat sie nicht gesucht und kann ihr auch nie mand geben. Sie wartet auf einen gütigen Menschen, der sie zart an der Hand nimmt und ihr die neue Welt zeigt. Er soll sie ihr nicht wie ein Fremdenführer zeigen und ein eingelerntes Sprüchlein heruntersagen, įas hat Piroschka.

selbst gemacht. Er muß ihr unsere Welt zeigen, wie sie ist. Mit allen Schwächen und Mängeln, mit ihrer Ungerechtigkeit und ihrem Egoismus. Aber mit ihrem Recht, Briefe zu schreiben, an wen und sooft man will.

Ich kann Pirie noch nicht führen, dazu gehört sehr viel innere Ausgeglichenheit und Ruhe. Ich habe sie noch nicht. Man muß mit uns viel Geduld haben.

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