6734651-1966_15_11.jpg
Digital In Arbeit

WIEN IST WAS IMMER WIRD

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt Menschen, die Wien als eine „Stadt“ sehen. Da kommen sie also in Wien an: aus dem näheren Ausland, etwa aus Frankreich, und aus dem ferneren Ausland, etwa aus Tirol, und fahren von Hütteldorf an in die Stadt. Sehen mittelalte Häuser, schlecht verputzt, Plakatwände, halb abgerissen; spüren den Staub; nur wenig Beton; immer noch sehr viel Ziegel. Hastende Menschen. Wenig Hunde. Wien ist keine Hundestadt. Preise im Hotel, die niedrig sind, verglichen mit den höheren Orten im näheren und ferneren Ausland. Dann gehen sie in die Oper, fahren zum „Match“ ins Stadion, lassen sich ein Magengeschwür operieren, kaufen Ledertaschen für weibliche, Sporthüte für männliche Freunde ein. Ein Abend in Grinzing (wenn es das Sanatorium erlaubt), ein Spaziergang durch die Kärntnerstraße. Und reisen ab: vom Schwechater Flugplatz, vom Westbahnhof.

Ein kurzer Blick zurück, vielleicht. Die Geschäfte gingen gut; aus der Rocktasche lugt, bisweilen, ein buntes Heft: eine Wildweststory über die rote Donau, die schwarzgelben Wiener Serails, eine Entführungsgeschichte. Sie bekommen sie aber nicht: Miß Peggy Poggy Hoo ist bereits verreist. Schon ist er verschwunden: ein heillweißer Flecken mit grünen und blauen Schatten, Wien.

Wien ist keine Stadt. Wien ist keine Operette. Wien ist kein Walzer. Wien ist keine Kron« Wien ist kein Film. Wien ist kein Roman.

Wien ist eine Existenzform. Was aber eine Existenzform ist, ist nicht leicht zu sagen. Ist heute viel schwieriger anzu-

sagen als gestern. Vorgestern war es leicht, kinderleicht: da liefen auf der Straße fast nur Existenzformen umher: der Herr Hofrat, das Wäschermädel, der Offizier, die Lavendelfrau, der Beamte, das Kerzenweiberl, der Burggendarm, der Bäckerbub und die Fiaker-Miilli.

Wer aber dürfte es wagen, heute — etwa in der Straßenbahn — Existenzformen festzustellen? Der Gelehrte sitzt dir im bettelgrünen Rock gegenüber; der Platzkartenvertreter fährt in der neuesten Limousine vorbei; die entzückende junge Frau, die zweite von links, ist Sprechstundenhilfe; die schwielige braune Arbeitshand (die sechste von rechts) gehört einer ehemaligen Gutsbesitzerin, die sich heute als Beschließerin (Ersatz, in Vertretung) durchbringt.

Es gibt keinen Adel. Es gibt kein Bürgertum. Es gibt keinen Arbeiter.

Daß es „natürlich“ (ist es wirklich so natürlich?) noch da und dort, wie ein Büschel grünen Grases zwischen den Pflastersteinen einer Gasse im Cottage, Adelige, Bürger, Arbeiter, alles im alten Sinne genommen, gibt, besagt hier wenig. Als Existenzform sind sie verschwunden.

Vielleicht gibt es einen vierten, fünften, sechsten Stand, der dich mit grauen Augen ansieht, plötzlich, etwas zu plötz lich. Du erschrickst: diesen Menschen habe ich doch schon irgendwo gesehen, im Krieg, im Vorkrieg. Vielleicht aber auch nur im Traum: in einem jener Kinderträume, in denen alles Bekannte fremd wird und 'alles Fremde nah. Schrecklich nah, ohne uns nahezukommen. So sitzen wir also beklommen und bedrückt ob so vieler „Nächster“, die wir alle kennen und nicht kennen, immer noch in der Straßenbahn.

Es ist also nichts, oder doch nur sehr wenig, mit dem Stand hierzulande als einer Existenzform. Das ist es nicht, was bleibt. Was geblieben ist.

Ehedem kamen viele große und berühmte Leute nach Wien. Seltsame Käuze, von denen sich heute der- Wiener nichts mehr träumen läßt. Wenn er im Belvedere steht, im Schloß des Prinzen Eugen, hört er vielleicht noch einen alten Herrn sprechen (von dem man nicht weiß: ist er Parkwächter, Uni- versitätsprofessor, Babysitter oder Bankbeamter): da stand auch Leibniz und dachte über die besten aller Welten nach … Wer aber weiß noch, daß Johann Christoph Edelmann hier Hauslehrer war, der seltsame Aufklärer, der in seinem Jahrhundert Furore machte, mit dem Friedrich von Preußen lange Gespräche führte? Hume kam nach Wien, ja, jawohl: der große Hume, Englands schärfster Denker bis auf den heutigen Tag. Peer Gynt kam nach Wien. Zwischen den beiden Weltkriegen. Er stand auf der Brücke über den Donaukanal, gegenüber der Urania, sah schief hinüber zum Hotel Metropol, dorthin, wo später die Bomben fallen würden; sah den Stephansdom und das trübe grüngraue Wasser. Neben ihm der nordische Tröll, Ibsen also persönlich, und er zerblätterte die Zwiebel: Blatt fällt von Blatt; zerblättert das Sein seines Volkes. Wissen wir es noch? Ibsen schrieb seinen „Peer Gynt“ gegen sein eigenes Volk; seine Laster wollte er ihm zeigen, seine Eitelkeit, seine Wahnmütigkeit…

Unser Peer Gynt verrät es uns nicht: was bleibt von unserer Stadt, die der allessehende trollische Höllengeist der Geschichte eben da zerblättert: wie da von ihr abfallen Glanz um Glanz, Würde um Würde, Titel um Titel, Ruhm um Ruhm, so wie Zwiebelblätter eben.

Wir sehen nicht alles, 'aber einiges sehen wir doch. Wien ist nicht mehr: Metropole eines Weltreichs, Kreuzpunkt von Weltachsen, Herzkem eines Kosmos. Churchills liebenswürdiges Wort, das er aussprach von Wien als der bestgeeigneten WeltfriedenSkongreßstadt, in Ehren; es spricht für die uralte Höflichkeit dieses normannischen Geschlechts großer Herren. Ein Lehrbub weiß es hier nicht 'besser, aber anders: das ist nicht mehr.

Was also ist hier? Wien heute: Ein Museum? Ein Galan- teriegeschäft?

Wer Her lebt, weiß es sehr wohl. Zum Wissen gehört es nicht, daß man es aussprechen kann. Wissen sitzt tiefer als die Rede. Der weiß es, der in Wien heute lebt und Wiener ist, Wiener geworden ist. Denn: Wiener sein ist ein spirituelles Schicksal. So würden wir sagen, wenn wir Franzosen wären; es ist jedenfalls keine Sache von Blut und Boden. Alle Wiener sind „Zuagraste“, zugewandert, um hier ihr Schicksal zu wenden (und mögen sie auch schon hinter der Hecke in Schönbrunn zugeschaut haben, als Adam in Evas Apfel biß). Wien ist etwas, was immer gerade wird: für einen Augenblick, für diese eine Stunde, in der sich so schrecklich viel zusammendrängt. Türken und Kuruzzen („Kruzitürken!“), Ungarn, Böhmen, Russen, Praterbuden, Gemeindebauten, Amerikaner. Das ist Wien. Eine Reaktion also: ein blitzschnelles, dabei ein unendlich leises, zartes Reagieren: auf das, was da ist, sich dir vorstellt, dich bedrängt, umwirbt, umschmeichelt, dich bedroht mit tausend Geschenken, mit Danaergaben, dich verhöhnt mit Schmeicheleien, dich versehrt mit Liebkosungen, mögen sie aus dem Mund fremder Staatsmänner, rauher Krieger, von Schwarzhändlern oder Literaten kommen. Das ist Wien. Das ist Existenz. Das ist Wien als eine Existenzform: kein Stethoskop, kein Riesenfernrohr, kein Elektronenmikroskop hat so viele Augen wie diese Stadt, als ein tausendfältiges Leben, das sich nach allen Seiten hin verteidigt, zur Wehr setzt: indem es ausschaut, Wache hält, Gefahr wittert, Freude erhofft, Angst verschweigt, Trauer überlächelt, Furcht in Form bannt: in Musik, Theater, Spiel, Zierart. In Wissen.

So blüht Wien in einem Weltmeer, das Stürme bis an den Grund hin aufwühien: als ein Korallenstock mit unendlich vielen herzroten Blüten. Der Stock hebt seine Blüten über die Brandung und taucht unter; ganze Stockwerke sterben ab in der Flut der Gezeiten; immer wieder aber erhebt er sein Haupt: lugt 'aus nach neuen Winden und neuen Wettern. Es ist also nicht von ungefähr, wenn klugen Fremden Wien als ein Ungeheuerliches erscheint: die Stadt ist nicht zu fassen, nicht in den Griff, nicht in den Kerker von Systemen zu bekommen. Immer ist sie anders.. Immer reagiert sie anders als erwartet. „Charakterlos“, wenn unter Charakter nur eine einmalige starre Prägung verstanden werden darf; wenn Charakter das Organische ausschließt; das ewige irdische Leben, das sich dehnt und streckt und blitzschnell und leise (wie oft sollen wir das noch wiederholen: blitzschnell und leise) reagiert, so Gewitter und Stürme im Anzug sind. Diese aber sind immer da. Es macht das Wesen der Stadt Wien als Existenz aus, dies immer auch zu wissen und fast immer zu umschweigen, während andere, Starre, einzelne und Einsame erst der Weltkriege bedürfen, um es schreiend zu ahnen und schreiend zu vergessen: daß jedwedes Leben nur wächst in Gefährdung, in steter Schwebe und Spannung nach allen Seiten. Das also ist der hohe Reiz und die nicht geringe Gefahr des „Wien heute“: hier ist alles Leben und „Lebien“, offen, ganz offen, nicht gestaltlos, aber fast anonym; Her wird nicht gebaut (wie wenig doch stehen hier echte, innerlich echte Neubauten, im Vergleich zu anderen Großstädten); hier wird gelebt. Hier wird kein System geschmiedet, auch kein Denksystem, geschweige ein großes politisches oder wirtschaftliches Konzept, denn Her wird gelebt. Hier wind nicht Zukunft geplant: denn Zukunft ist hier ein Zukommen, das umworben, umspielt (auch in Formen umspielt) wind, das herbeizureißen sich aber alle sehr wohl hüten. So sie eben Wiener sind, an die Existenzform dieser Stadt gebunden.

Das aber ist der Reiz, der nicht ungefährliche Reiz, von Wien heute: die Zeitlosigkeit, diese Atmosphäre einer Wachheit, die alles aufndmmt, um sich von allem zu distanzieren; die alles hören will, um es zu überhören; die alles sehen will, um darüber hinaussehen zü können.

Mit diesem Wien ist also wenig „anzufangen“. Diese Stadt ist gänzlich ungeeignet für die schönsten Wettbeglückungs- pläne. Mit dieser Stadt läßt sich nicht rechnen. Um dieser ihrer Unberechenbarkeit willen wird sie von vielen geliebt, von etlichen gehaßt, von wenigen verstanden. Sie will aber auch gar nicht „verstanden“ sein. Denn sie will leben: und leben kann nur, wer von niemandem auf Dauer in den Griff, in den Würgegriff genommen wird. Wer sich also zu entziehen vermag: in die Kunst, in die Mode, in die Arbeit, in allerlei Schaffen.

Wer nun also den Sinn auftut, sieht schnell und deutlich an den Arbeiten, Produktionen, Schöpfungen Wiens heute: sie haben ein seltsam Unverbindliches, ein Sich-Entziehendes. Sie sagen nicht ja und nicht nein zu dem anderen und zu den anderen. Ihr Eigensinn besteht aber auch nicht darin, daß sie sagen: „So sind wir (wie es im deutschen Soldatenlied heißt), sondern: sie sprechen überhaupt nicht von sich: gehen vorbei, suchen dabei schnell, etwas Geld zu bekommen, etwas Frohsinn einzutauschen, ein Geschäft zu erledigen. Ein Passant. Auf der Wanderschaft. Niemand weiß, wo sie sich niederlassen werden. In welchem Stil, in welchem Weltenhaus. Vielleicht ist es deshalb: daß Wien doch der einzige Ort auf dieser Welt ist, wo heute der Friede verhalten werden könnte und sollte. Als ein flüchtiges Etwas, ein Scherz fast zunächst, der Konversation. Bis allmählich hinter den Reden und Depeschen die hinteren Dinge sichtbar werden. Die ausgesprochen, die ausgehandelt werden müssen. So wie es eben zugeht in der Wiener Existenz, wo mitten im Alltag, zwischen zwei Wagen, die auf der Ringstraße vorbeigleiten, ein Gesicht sichtbar wird. Das Gesicht eines sehr alten Mannes. Oder auch einer alten Frau. Oder auch eines Kindes. Das alles weiß; das sehr viel getragen hat und bereit ist, zu vergessen. Nicht aus Heroik; nicht aus großem Mut: einfach, weil es Kraft finden muß, morgen sein Leben zu leben. Seine Arbeit zu tun; in der Fabrik, im Büro, im Labor, im Haushalt, am Konstruktionstisch, am Spielplatz im „Beserl“park. Am Spielplatz des Welttheaters.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung