6539354-1946_32_08.jpg
Digital In Arbeit

Wiener Kirchenmusik — Erstarrung oder Leben?

19451960198020002020

In der ausführlichen Besprechung von Josef Lechthalers jüngstem sakralen Tonwerk, der „Missa Gaudens gaudebo“, gab Universitätsprofessor Dr. Leopold Nowak in Nr. 30 der „Furche“ gewissen kritischen Vorbehalten gegenüber den kühnen Vorstößen moderner Kirchenmusik „in unbekanntes Neuland“ Ausdruck, er sprach einer gewissen Problematik nicht die Daseinsberechtigung ab und anerkannte es als notwendig, daß ein Werk, das neue Wege weist, „auch den Mut hat, Ungewohntes zu sagen und darin liege ein Mut, der anerkannt werden muß“. — Das positive Element, das dem Aufbruch zu neuen Wegen der Kirchenmusik innewohnt, stellt in den nachstehenden Ausführungen der angesehene Praktiker der Wiener kirchenmusikalischen Kunst heraus. Wir halten es für unsere Aufgabe, auf diesem vornehmen Gebiete religiöser Kunst den lebendigen wissenschaftlich-empirischen Austausch der Argumente zu fördern.„Die Furche“

19451960198020002020

In der ausführlichen Besprechung von Josef Lechthalers jüngstem sakralen Tonwerk, der „Missa Gaudens gaudebo“, gab Universitätsprofessor Dr. Leopold Nowak in Nr. 30 der „Furche“ gewissen kritischen Vorbehalten gegenüber den kühnen Vorstößen moderner Kirchenmusik „in unbekanntes Neuland“ Ausdruck, er sprach einer gewissen Problematik nicht die Daseinsberechtigung ab und anerkannte es als notwendig, daß ein Werk, das neue Wege weist, „auch den Mut hat, Ungewohntes zu sagen und darin liege ein Mut, der anerkannt werden muß“. — Das positive Element, das dem Aufbruch zu neuen Wegen der Kirchenmusik innewohnt, stellt in den nachstehenden Ausführungen der angesehene Praktiker der Wiener kirchenmusikalischen Kunst heraus. Wir halten es für unsere Aufgabe, auf diesem vornehmen Gebiete religiöser Kunst den lebendigen wissenschaftlich-empirischen Austausch der Argumente zu fördern.„Die Furche“

Werbung
Werbung
Werbung

„Cantate Dominum canticum novum.“

(Psalter)

Die kirchenmusikalischen Aufführungen Wiens, in ihrer Qualität erfreuliche, vielfach sogar hervorragende Leistungen, geben dennoch in ihrer Gesamtheit ein mehr deutliches als bedeutendes Bild. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird nämlich seit Generationen der gleidie winzige Bruchteil aus dem unerschöpflichen Schatz der Musica sacra, die Zeit der Wiener Klassiker und ihrer Epigonen, abgespielt und alles andere mehr-weniger ignoriert. Mit einer Handvoll Haydn-, Schubert- und Mozart-Messen wird, rund ausgedrückt, die Wiener Kirchenmusik bestritten. Ältere und alte Meister werden gemieden, Zeitgenossen sind vielfach kaum dem Namen nach bekannt. Abgesehen davon, daß die Kirche selbst diesen Stil nicht als ideale Kirchenmusik gelten lassen kann, da er sich von ihrer eigenen Musik, dem gregorianischen Choral, so ziemlich am weitesten entfernt, verlassen die Kirchenmusiker auch musikalisch den weltgiltigen Standpunkt durch die ständig wiederholte Aufführung einiger weniger Messen desselben Stiles.

Die Kirchenmusik ist keine Domäne der Wiener Klassiker, sondern reicht von den Katakomben bis zu den heute schaffenden Jungen und kaum ein bedeutender Meister, welcher Zeit immer, blieb von ihr unberührt. Jede Zeit fand ihren Stil und pflegte ihn und daneben in Treue und Anhänglichkeit die älteren Meister. Die Wiener Übung aber ist nicht viel mehr als letztes Verschwenden einer gewohnten Musiksubstanz; die man dem Heute wie eine Barrikade entgegenstellt. Die Werke der Wiener Klassiker sind die Artillerie, mit der man auf die jungen Komponisten schießt, die man, weil sie so Ungewohntes, Unbequemes schreiben, von vorneherein als unzureichend und minderwertig abtut. Damit aber schließt man sich ein in eine Igelstellung, darin man am Ende verhungern muß. Denn die jungen Komponisten können viel mehr als ihre Gegner aus Bequemlichkeit ahnen. Erst vor kurzem beherbergte Wien den Chorregens der Pariser Dreifaltigkeitskirche, den jungen Oliver Messiaen, dessen uns vorgeführte Kompositionen ebenso überraschend als offenbarend winkten, vom Gregorianischen befruchtet, vom Liturgischen inspiriert, von Quellen also, aus denen die Wiener Kirchenmusik nur äußerst spärlich gespeist wird. Schon die Titel seiner Werke machen aufhorchen. „Die Visionen des Amens“ — „Zwanzig .Blicke auf das Jesuskind“ — „Drei Liturgien über die göttliche Gegenwart“ — „Quartett für den Untergang der Welt“. Entstehen solche Gedanken in einem noch so begabten Menschen, dessen kirchenmusikalisches Erleben auf ein paar Haydn- oder Schubert-Messen beschränkt bleibt? Kommen wir da nicht unrettbar ins Hintertreffen mit der kirchenmusikalischen Gebetsmühlenpraxis? Welches sind die Ursachen dieser starren Einseitigkeit und wie kann man der Vergreisung begegnen?

Die Ursachen liegen gewiß zum Teil in unserer aussdiüeßlich auf Tradition gegründeten Musikpflege überhaupt. Auch Oper und Konzertsaal leben ja im wesentlichen noch immer vom klassisch-romantischen Programm. Nach Makler, Richard Strauß und Puccini hat sich kein neuerer Komponist einen dauernden Platz in unseren Programmen erobern können. Die Wiener Mentalität ist auf Bewahren eingestellt und , sie hat allerdings die Schätze ihrer klassischen Zeit in wunderbarer Reinheit bewahrt und in unnachahmlichen Wiedergaben ' lebendig erhalten. Aber sie mißtraut dem Neuen so lange, bis es endlich auch alt geworden ist und uns nicht mehr aus der Zeit, sondern aus der Ewigkeit anspricht. Sie lebt von Konserven und kreuzigt das Neue, Lebendige. Welches Martyrium hatten Anton Bruckner und Hugo Wolf durchzumachen, bevor ihre Werke überhaupt aufgeführt wurden! Wolf hat sich bis heute weder im Konzertsaal noch in der Oper durchsetzen können. Einzig die Amateure, unvoreingenommener als die Leute von der Zunft, haben seine Lieder unsterblich gemacht. Die Zunft war der Hemmenden voll, der Richter und Hanslicke, die unfähig waren — oder auch nur unwillig —, das Neue Zu erhören und zu erfassen, das Geniale zu erkenneh. Auch heute gibt es die Richter und Hanslicke, denen die Angst vor der „Atonalität“ in den Gliedern liegt.

Mit Atonalität aber bezeichnen sie alles, was über die klassisch-romantische Klangwelt hinausgeht. Es gibt moderne Dirigenten, deren modernste Leistung eine Haydn-Symphonie bleibt, die allerdings der Beliebtheit sicher ist und ihren Dirigenten jovial darein bezieht, und es gibt Kritiker, die jeden alterierten Akkord wie eine „Entartung“ anschnuppern. Wie sollte die Kirchenmusik, in ihrer sakralen Stellung ohnedies Neuerungen langsamer zugänglich als ihre weltliche Schwester, in Neuland vorstoßen, wenn alle Tore durch die Füllfedern der Beckmesser bedroht waren und sind? Freilich hat sie auch die Verbindung mit ihrer eigenen Vergangenheit verloren, sie wurde seilest Vergangenheit und singt, einer silberhaarigen Solveigh gleich, das Traumlied ihrer Jugend als einzigen Can-tus firmus.

Generationen sind in dieser klassischromantischen Musiksubstanz herangewachsen und haben sie ausschließlich musiziert. Die Vorsicht dem Neuen gegenüber wurde zum Prinzip der Ablehnung. Tatsächlich bedeutet die genannte Epoche schon durch die Fülle der in ihr schaffenden genialen Komponisten einen Gipfelpunkt europäischer Musikkultur mit dem Zentrum Wien. Diese Musik aber ausschließlich konsumieren mit Außerachtlassung aller anderen Stile hieße, ins Literarische umgedeutet, ungefähr die alleinige Lektüre Goethes und Schillers.

Die Kirchenmusik nimmt Neues langsamer auf, aber sie meldet Altgewordenes, Vergangenes früher als der Konzertsaal. Nur muß man die Gläubigen fragen, nicht die Musiker. Im Grunde genommen, musizieren die Kirchenchöre ihre Haydn-Messen nur mehr sich selbst zur Freude, zum Dekor, zum repräsentativen Existenzbeweis. Den betenden Gläubigen beginnt mehr und mehr die Beziehung zu dieser Art Kirchenmusik zu fehlen, vielleicht um so mehr, als sie ihnen aussdiüeßlich vorgetönt wird. Sie sind durch die Vorstufen des Weltgerichts, i'e sich in den letzten Dezennien vor ihren Augen abspielten, zu ernst, zu nachdenklich geworden für diese unbekümmert festliche, im letzten spielerische Kirchenmusik, die ihr Gotterleben längst nicht mehr ausdrückt. Sie entbehren die neue Weise, die männlich demütige Bekennerweise, die nicht allein zu ihrer Erbauung erklingt, sondern ihr eigenes Herz in Einklang bringt mit der „Gemeinschaft der Heiligen.“

Hier wird eine weitere Ursache der Vereinsamung sichtbar. Wert und Stellung der Kirchenmusik kann vom Musikalischen her nicht ausschließlich erfaßt werden. Wie die genannten Titel der Messiaen sehen Werke zeigen und wie außerdem schon ihr Name andeutet, kommt die geistliche Musik vom Geist her, von der Gottgemeinschaft, ist das Zungenreden unserer Tage, ist tönende Offenbarung. Ein großer Teil der heutigen Kirdienmusiker, auch der künstlerisch bedeutenden, hat davon noch nie gehört und seherisch begabt sind allzu wenige. Es gibt auch heute nodi eine gar nicht so kleine Anzahl Wiener Kirchen, in denen auf die Gesänge des Proprium missae teilweise überhaupt verzichtet wird, während ein anderer Teil als meist unerwünschte „Einlagen“ stilwidrig schnell und kurz — gelegentlich allerdings auch viel zu lang — abgetan wird.

Damit ist die Kirchenmusik zu einer formalen Übung geworden, wie es Bilder und Statuen sind, während sie ein Höheres, ein Wesentliches, ein „integrierender Bestandteil der Liturgie“ sein soll. Sie wird diesen Mangel nicht überwinden, solange sie in ihrem klassisch-romantischen Schmollwinkel verharrt und, von ganz geringen Ausnahmen abgesehen, der Gegenwart verschlossen bleibt.

Alle Hoffnung richtet sich auf die jungen Kirchenmusiker, die sich ausführend so wenig als zuhörend mit dem wenn auch noch so gut Konservierten begnügen werden und die in den modernen Kirchenmusikakademien alle Disziplinen der Musica sacra studiert haben. Alle Hoffnung liegt auf ihnen und macht ihnen ihre Aufgabe zur schweren Verantwortung. Aber schon zeigen sich tatkräftige Ansätze, über das Gewohnte hinaus zur Gegenwart vorzustoßen. Wenn diese Ansätze, dieses keineswegs verfrühte Bestreben, die Isolation zu durchbrechen, von allen berufenen Stellen unterstüzt werden — und das sind nicht nur kirchliche —, dann kann seit einem halben Jahrhundert Versäumtes nachgeholt und unsere Kirchenmusik aus einem nur mehr Historischen wieder ein Lebendiges werden, das aus allen musikalischen Quellen gespeist wird, nicht aus einem einzigen Wasser. Dann, aber nur dann, wird man mit frohem Staunen entdecken, daß mit denen aller Zeiten auch unsere klassischromantischen Meister, denen unsere persönliche Liebe nun einmal gehört, sich wunderbar in dieses lebendige Bild des Heute einfügen. Und der Kirchenmusiker wird sich wieder als selbständiger, wegweisender Künstler erweisen und den Beruf des begabten Werkelmannes überwinden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung