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Wiener Schauspiele

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Es ist etwas Eigenes im deutschen Sprachraum um patriotische Festspiele, im höheren Auftrag bei Dichtern bestellt. Goethe mußte bereits mit „Des Epimenides Erwachen“ den Tadel nationalbewegter Köpfe einstecken, sein Stück sei so ganz und gar nicht hinreichend „patriotisch“. Gerhard Hauptmann ging es nicht besser. Als Schnitzler 1909 mit seinem Gedächtnisstück für die Schlacht bei Aspern „Der junge Medardus“ herauskam, brach bei vielen der Unmut los. Wie, ein vaterländisches Schauspiel zu Ehren Österreichs? Wie, und dieses minderwertige, ganz und gar unheldische Gesinde der Wiener, kleingläuig, wetterwendisch und konjunkturbedacht, soll Österreichs Heldenvolk sein? — Die Entrüstung von 1909 hat sich gelegt. Vierzig Jahre später hat man im Volkstheater das Stück um 120 Seiten zusammengestrichen. Und sieht manches heute klarer. Schnitzler und der introvertierten ichversponnenen Person-Kultur der Decadence um die Jahrhundertwende war nichts ferner, fremder, unwirklicher als die Einbezogenheit und Einforderung des Individiums in den Dienst überpersonaler Ganzheiten — Gott, Nation, Staat, Volk, Gesellschaft. Interessant, wie Schnitzler sich aus der Affäre zog. Sein junger Medardus, „des Krieges letzter und seltsamster Held“, Sohn eines In Napoleons Auftrag erschossenen Patrioten, tötet — nicht Napoleon, sondern, befangen in Leidenschaft, Irrtum und Verblendung seiner Haßliebe, die geliebte Frau, von der er wähnt, daß sie sich Napoleon preisgab. Im Zentrum des Festspieles stehen also die Wirrungen eines jungen Herzens, doch so eingesponnen, auf eine sehr feine und diskrete Art, in das Wesen des Wiener Volkes, das hier für „Österreich“ steht, daß bisweilen fast ein Röntgenbild des Landes entsteht. Zwischen diesen beiden Polen schwankt das Drama: Lebensgeschichte eines Wieners — oder Geschichte von den Wienern? Beides ganz zu verschmelzen ist nicht leicht. Dem Volkstheater gelingt eine zügige Aufführung, die keine Längen aufweist. Die Schauspieler halten ein wohltemperiertes Mittelmaß.

Die Weite Amerikas in zwei Einaktern der Josefstadt: „2 7 Waggons Baumwolle“ von Tennessee Williams und „Mein Herz ist im Hochland“ von William Saroyan. Um es vorwegzunehmen: viele Einzelheiten des technischen Apparats, der dramatischen Klaviatur, erinnern hier an das europäische Drama zwischen 1880 und 1920, und dennoch liegt hier etwas anderes vor: die Spannungsbreite und Fülle eines anderen Kontinents. Dieselben Formeln sind nicht mehr dasselbe, es ist nicht mehr dieselbe Sprache und Sache. Brutal, grell und gell der Einklang im ersten Stück. „Baumwolle“: zwei Farmer in den Südstaaten, die sich gegenseitig mit Brandstiftung beziehungsweise Uberfall auf die Gattin jene „Politik der guten Nachbarschaft“ deklarieren, die eine der wichtigsten innenpolitischen Slogans Roosevelts darstellte. Dieser politische Akzent ist jedoch nicht alles. Wesentlich ist, daß hier, gezeichnet mit wenigen sehr handgreiflichen Worten, Gesten, Akten, jener brodelnde Untergrund des amerikanischen Südens angedeutet wird, aus“ dem die Romanciers, die Weltenmaler der amerikanischen Moderne kommen, und dessen Antlitz, gefahren- und schicksalsträchtig, dunkeldrohend und verheißungsvoll heute seine Forderung an die Nation anmeldet. Was ist das aber für eine Nation? Ist es bereits eine Nation? — Saroyans Stück bringt Schotten, Slowaken, Armenier auf die Bühne. Seltsame Helden, Menschen, die sich noch nicht ganz zurechtfinden können in den Staaten. In ihren Träumen hängen sie an der alten verlorenen Heimat. Ihr danken sie das Beste: die Sehnsucht, das stete Ungenügen an der Realität des neuen Taglebens. Und doch stehen sie, in all ihrer Notdurft, auf dem Boden einer neuen Welt, obgleich sie es selbst oft nicht wissen, nicht wissen können. Das, auch das Ist Amerika: europäischer Romantizismus und Eklektizismus, alte, hier verbrauchte Worte und Werte — jenseits des Meeres entfachen sie Schwingungen, entfalten ein vibrierendes gespanntes Etwas, werden wieder trächtig, Transparenz, wenn schon nicht gleich Transzendenz zu tragen. Daher die erregende Wirkung mancher neuamerikanischer Theaterabende. Alles ist uns hier bekannt und alles ist fern. Ist ganz anders. Neu-Europa?

„Das Experiment“, eine Spielgemeinschaft junger Wiener Schauspieler im Konzerthaus, bringt die Uraufführung eines österreichischen Autors: „Der Steinbruch“ von Hans Friedrich Kühnelt. Erstaufführungen junger österreichischer Autoren haben an sich bei uns Seltenheitswert; der Autor dieses Schauspiels ist mehrfach bereits als Lyriker aufgefallen, was bringt er uns nun? Einige starke Szenen, in denen das Erleben unserer Zeit einschwingt: die Welt — ein Steinbruch, wüst und leer und grausam. Wir alle sind Gefangene unserer Begierden, Sehnsüchte, Illusionen. Packend, wie ein tauber Wärter dem „neuen Zugang“ den Umkreis des Steinbruchs beschreibt: eine geschlossene Welt. Erbarmungsloser, harter, tauber Stein, überglüht von einer mordenden Sonne. Kosmos atheos. — Einige starke Lichter also. Der Rest, ein immer noch zu großer Rest: verbrauchte Formeln. Eine falsche Story. Man weiß das und wartet auf das andere.

Ein altes Lustspiel der Inflationszeit, akko-modiert an die Gegenwart: „Antonia“, von Melchior Lengyel, als Gastspiel der Josefstadt in den Kammerspielen. Die Geschichte von der Weltdame, die, aufs Land verheiratet, aus ihrem behüteten Gutsbetrieb nach zehn Jahren für eine Nacht in das Licht der Großstadt zurückkehrt. Da sie keine Motte und keine Eintagsfliege ist, kehrt sie unverbrannt zu Gatten, Gut und Landwirtschaft zurück. Ein Stück, das so sehr gestellt, „gemacht“ ist, daß es Vollblutnaturen — der Bühne — braucht, um Leben zu fangen. Die Josefstadt liefert sie, das Publikum hat seinen „Spaß“, lacht laut und fragt nicht nach den Gründen.

Die Insel versucht sich, mit erstaunlichem Geschick übrigens, an einem bäuerlichen Schwank: „Das Paradiesgär t-1 ein“, von Hermann Heinz Ortner. Eine „Komödi“ um ein blutarmes Schneiderlein, das seinen Schatz, die reiche Bürgermeisterstochter, nur „kriegen“ zu können glaubt, wenn ihm ein vergrabener Schatz und zwei Schelme zu Hilfe kommen. Breit und gemächlich, mit einer Harmlosigkeit, die nicht ohne Tücken ist, werden Szenen um einen ländlichen Pfarrherrn geschildert, der äußerlich jenem großen von Cleversulzbach Im Unterland ähnelt, innerlich jedoch das Produkt eines Schriftstellerhirns aus österreichischem Josephinismus, „liberalem“ und „nationalem“ Anti-klerikalismut und einer unguten Bonhomie ist. Es ist das Verdienst der Inselbearbeitung, diese und einige andere Bezüge zurückzudrängen zugunsten der heiter schimmernden Geschichte um zwei junge Herzen, die herzhaft flott heruntergespielt wird.

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