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Wir kamen nach Friaul

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WANDERER, komm nach Italien, wenn du im Sommer unwiderstehliche Wanderlust verspürst, wenn du vom Fernweh angesteckt bist wie von der asiatischen Grippe. Es ist aber besser für dich, deine Nerven, deinen Wagen und die Brieftasche, wenn du im September fährst als im Juli und August. Der September ist schöner, milder, billiger. Tage vorher noch kurven die motorisierten Gotenzüge nach dem Süden. Alle haben sich entschlossen, Michelangelos David zu sehen — und — David wants to see them. Wenige sprechen Italienisch. Ja, es hatte auch der ebenso weise wie dicke Chesterton recht, daß vieles Reisen auch den Horizont verengen könne. Er traf mit diesem Paradox den Nagel auf den Kopf. Man beobachte nur den rasselnden Trab, mit dem die Leutchen durch die Apenninenhalbinsel hasten. Reisen scheint den alten Rhythmus von Abfahren, Ankommen, Bleiben verloren zu haben. Drum, Wanderer, spar dir die Hetze. Warum "bis Capri? Bleib in Friaul

HINTER PONTEBBA ist der Himmel blauer und die Herrenhemden sind weißer, die Kleidung ist froher, freier. Im Zug sind viele Kinder, sehr lebendig. „I fruz, cui ju capis?“ meint eine graziöse Frau. War das Italienisch? „Sie haben wohl nicht verstanden“, sagt sie in fließendem Deutsch. „Wer versteht schon die Kinder“, sagte ich. Es war Friaulisch, auf italienisch hieße es nämlich „I bambini, chi li capisce“. „Friaulisch, für den Nichtfriauler unverständlich, sprechen wir daheim, in der Schule lernen wir Italienisch. Natürlich sind wir hundertprozentige Italiener.“ Friaul ist reich an Kunstschätzen, arm an denen der Natur, besonders im Norden. Was bleibt, ist die Auswanderung. Der das Land verlassende Italiener geht nicht unbedingt seinem Volk verloren. Er spart, schickt Geld heim und kommt, sobald er glaubt, daß seine Ersparnisse ihm daheim eine bescheidene Existenz ermöglichen, zurück. Während der Zug den Tagliamento entlangbraust, erfährt man manches. Trotzige Zinnen, dürftige Schur der Grasnarbe, magernde Sil- houetten der Bäume, viel Mais und flachdächige Häuser. Links das anmutig hingelagerte Gemona. Kosaken haben es heimgesucht. Kosaken? Ja, Abteilungen Wlassows lagen hier, Anno 1945. Das Städtchen sah eine Tragödie. Sie wurden den Sowjets ausgeliefert. Geboren am Ufer des Don, Freitod im Tagliamento

UDINE, die Hauptstadt Friauls und die Stadt des Tiepolo, jenes venezianischen Künstlers, der mit Bienenfleiß hier geschaffen hat. 98 3 wurde die Stadt erstmals in einer Urkunde Ottos II. verzeichnet. Amerikaner garnisonieren hier, jene Truppen, die unser Land räumten. Immer wieder überraschen malerische Winkel, blumengeschmückte Balkons, kühle Bogengänge, Sonnenglast über weiten Plätzen, froher Friede hoher Hallen, eine Glocke kündet die entfliehende Zeit

Ein italienischer Kollege lädt zur Fahrt ans Meer ein. Pappeln säumen die schnurgeraden Straßen. Grelle Reklametafeln verschandeln die mais- und weinreiche Landschaft: Birra Dreher, Hollywood, Coca Cola (das muß die Rache des Roten Mannes am Weißen sein), Campari, Aquila. In Abständen von hundert Metern Tafeln in deutscher Sprache: Gut essen! Gut trinken! Gut schlafen! Wo? Endlich der Hotelname. Der Tachometer zeigt 120 Kilometer, und der Fahrer nestelt nach Zigaretten. Auf dem Armaturenbrett ein in Leder gefaßtes Mädchenbild mit Goldschrift: Sii prudente! — Fahr vorsichtig! Wir fegen mit 140 Kilometern dahin, starker Gegenverkehr; die rechte Hand weist auf eine Querstraße: „Questa ė la strada Venezia—Trieste!“ Aha! Die Pneus jaulen in den Kurven, Kinder laufen zur Seite, Bremsen knirschen, wir sind da: ii mare!

LIGNANO, bis 1905 ein elendes, mückenumschwärmtes Fischernest zwischen Venedig und Grado. Das Wort Straße fehlte im örtlichen Sprachschatz, es gab keine. Wer es besuchen wollte — und wer wollte es schon? —, ruderte von Marano über die Lagune herüber . Da hatte Angelo Marin, heute der wohlbestallte Nestor der dortigen Hotellerie, die Idee, einen Gasthof zu bauen. Allenthalben verursachte das Kopfschütteln. Zeppelin war es ja auch nicht anders ergangen. Wie sich aber die Zeppeline vermehrten, so auch die Hotels und Pensionen. In einem Jahr wurden allein zweihundert gebaut, die sich am Sabbiadoro, dem sieben Kilometer langen Strand mit dem berühmten feinkörnigen Goldsand, entlangziehen. Aus dem Nest von einst ist heute ein vielbesuchter Kurort geworden. 1947 kamen 70.000 Gäste, 1957 etwa 1,300.000. Der Großteil Deutsche und Oesterreicher. Die letzteren machen 36 Prozent aus. Es ist verständlich, ist man doch von Wien in neun Stunden dort, in gar nur drei Stunden von Kärnten.

FERIEN — das bedeutet etwa für den Durchschnittsfranzosen auch Ferien von den Kindern, für die übrigen mitteleuropäischen Kinder oft Fortsetzung der von kräftigen Kopfnüssen unterstützten Erziehung an anderen Orten. Der Franzose gibt sein Kind in eine Ferienkolonie, deren es nirgendwo mehr gibt als in Frankreich. Anders in Italien. Der September und Oktober gehört den Bambini. Mit Kind und Kegel zieht man, so man es sich leisten kann, ans Meer, unter Mitnahme der erprobten kostenlosen Dauerbabysitter — der Großmütter. Auf Schritt und Tritt spürt man den ausgeprägten Sinn für Sippenpflege. Drei Kinder die Regel, fünf nicht die Ausnahme. Erst die Kinder, dann nichts, dann nochmals die Kinder, dann erst die Motorräder. In unseren Breiten pflegt es umgekehrt zu sein. Wie liebevoll sich die Väter mit den Kindern beschäftigen: am Strand als geduldige Burgenbauer, in der Kirche, wo sie deren Patschhändchen in den eigenen gefalteten halten. Der Italiener ist höchst menschlich, wahrscheinlich auch glücklich. Die Idee vom Glück ist sehr alt. Ihre Kenntnis ist fast verlorengegangen, aber mehr als jede andere hütet die lateinische Welt noch das alte Nutzungsrecht. Nicht Glück im physischen Sinn. Es ist die Erfahrung vom möglichen Glück, wie es Mauriac formulierte, die sich in Italien zweifellos leichter ergibt, dank dem Klima, dem Himmel und dem herrlichen Boden, der von Geschichte gedüngt ist. Jenes Glück also, das den Preis der Muse kennt, dem weniger das Nützliche wichtig ist als das Schöne, das aktiv ist, fleißig, genügsam

PINETA heißt 'soviel wie Pinienwajd und liegt vier Kilometer von Lignano entfernt. Vor drei Jahren waren dort nur Sand, Kiefern, Ginster und Heidekraut. Alberto Graf Kechler, ein Grundbesitzer, dessen Familie vor zweihundert Jahren aus Prag ins Friaulische gekommen war, hatte einen kühnen Plan.. Könnte man . nicht, däähte er, in dieser Landschaft am Meer mit privater Initiative einen Kurort errichtdn? Freilich unterschätzte er den Kohäsionskleister, der die Behörden, hier wie überall, gegen das Neue und Umschaffende verbindet. Schließlich aber waren sie mit dem Plan des Aristokraten, in dessen Haus Ernest Hemingway gern weilt, einverstanden; nicht zuletzt wegen der zu erwartenden fetten Steuern. Eine private Gesellschaft erwarb den Grund, baute, um Kreuzungen zu vermeiden, spiralenartig Straßen, legte Wasserleitungen an und leitete Licht ein. Nun bot man Grundstücke zum Kauf an. Wer vor 1958 baut, ist 25 Jahre steuerfrei. Prinzipiell dürfen nur 20 Prozent der erworbenen Grundfläche verbaut werden, wobei die Kiefern nicht überragt werden sollen. Hotels bilden eine Ausnahme. Die junge Architektengarde, wohlvertraut mit Gropius und Wright, wie zum Beispiel der junge Udinese Gianni Avon, haben Villen und Hotels von solcher Kühnheit gebaut, die nicht wenigen Besuchern Worte wie „einfach toll“ und „phantastisch" entschlüpfen lassen. Eine „Motel-Ranch", die erste ihrer Art an der Adria, gibt dem Mieter das vollständige Herr- im-Haus-bin-ich-Gefühl.

Der Tenor ist: Wir wollen keine Musikboxes aufstellen und möchten, daß die Manager ihre gelben Handtornister, in denen sie ihre Verträge und Kreislaufstörungen umhertragen, daheim lassen. Die jungen Leute, die über den Asphalt wetzen, als hätten sie Ameisen in den Socken, sollen hier einmal auf Null schalten. Hier sollen alle das finden, was heute so gesucht wird: Ruhe und Entspannung, Meer und Sonne — bei erschwinglichen Preisen.

AQUILETA liegt südlich von Udine. Es ist die „glorreiche" Stadt aus der Römerzeit. Im archäologischen Museum findet man jene Gegenstände, die unsere heutige Massenproduktion billiger, aber nicht dauerhafter erzeugt als die

Antike. Venezianische Glasfachleute erscheinen immer wieder, um die 2000 Jahre alten Scherben köstlicher Vasen und Schalen zu studieren. Es gibt — historisch gesehen — keinen größeren Kontrast als Aquileia und Venedig. Hier römische Klarheit, imperiales Maß, höchste geistige und militärische Zucht, Dort amphibisches Sein, Balanceakt an den Küsten, Söldnerwesen, Ersatz des Blutes durch Geld und Kalkulation, Mangel an tellurischer Solidarität. Man geht durch die Ausgrabungen Aquileias, vorbei am Forum, an der Via Sacra, welche sich am Flußhafen entlangzieht, und kommt zu dem Ergebnis: Die Alten hinterließen uns das römische Recht. Was hinterlassen wir: Die H-Bombe und die Radio

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