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Wir können nicht ewig wegschauen

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DIEFURCHE: Frau Professor Gabriel, Gewalt ist in unserer Gesellschaß in einem Ausmaß präsent, das viele erschreckt Kommt uns zivilisiertes Verhalten allmählich abhanden^ Ingeborg Gabriel: Ich glaube, man muß sagen, daß das Thema „Gewalt” in der öffentlichen Diskussion periodisch auftaucht - wenn auch in unterschiedlichen Zusammenhängen. Und jedesmal erscheint es so, als wäre die Problematik an sich neu. Das muß nachdenklich stimmen in einem Jahrhundert, wo es so viele Gewaltkatastrophen gab: zwei Weltkriege und viele andere, Konzentrationslager, Gulags...

Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, gab es dann das Erschrecken über den Terrorismus. Hier war es freilich zugleich die Kampfansage an die Gesellschaft und den Staat, die als in sich gewaltsam denunziert wurden und durch revolutionäre Gewalt überwunden werden sollten. Interessant ist dabei, daß die marxistische Ideologie keine Möglichkeit zur „Begrenzung von Gewalt” unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern auf ihre endgültige Überwindung setze. Gewalt sollte durch Gewalt überwunden werden. Es gab Alles oder Nichts. Vielleicht hat uns auch die schwere Krise, in die dieses Denken geraten ist, das stark mit säkularisierten theologischen Vorstellungen durchsetzt war, das Problem neu sehen lassen. Jedenfalls besteht der Unterschied heute darin, daß das Phänomen der Gewalt eher von den alltäglichen Erfahrungen her verstanden und diskutiert wird: „Gewalt in der Familie”, „Gewalt in Jugendbanden”, „Gewalt gegenü- ^^^™ ber dem politischen Gegner”. Eine wichtige Rolle für diese neue Sensibilisierung spielen zweifellos auch die Kriege in Europa, vor allem der Ros-nien-Krieg vor unserer Tür. Hier ebenso wie im Falle der Gewalt gegen Schwächere bricht die Frage neu auf: Woher kommt es, daß der Mensch für den Menschen zum Wolf, ja zu Schlimmerem werden kann, und was läßt sich dagegen tun?

DIEFURCHE: Gab es nicht Hoffnung? Je weiter die Zivilisation fortschreitet, desto mehr wird die Gewalt zurückgedrängt Der Mensch werde sich seinen Mitmenschen gegenüber zunehmend friedlicher verhalten^ gabriel: Ja, diese These gab es, aber

Die ethischen Ressourcen einer Gesellschaft sind begrenzt, warnt die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel. Sie müssen immer wieder erneuert werden. sie erscheint angesichts der Katastrophen dieses Jahrhunderts nicht überzeugend. Aus christlicher Sicht muß man sehen, daß hintef diesen Vorstellungen ein Fortschrittsoptimismus steckt, der so durch nichts gerechtfertigt erscheint

Freilich, es gab und gibt Fortschritte, aber auch violente Rückschritte. Denn Gewalttätigkeit stellt immer eine mit dem Menschen mitgegebene Gefahr dar. Dies gilt ehrlicherweise für uns selbst, aber auch für gesellschaftliche Gruppert. Nur verdrängen wir diese dunkle Seite der menschlichen Existenz gerne. Und wir müßten uns vielleicht Gedanken machen, wie wir besser damit umgehen.

DIEFURCHE: Wie denn? Gabriel: Die Frage, die Sie stellen, ist vielschichtig. Letztlich dienen ja alle Regeln, die wir für unser Zusammenleben aufstellen und beobachten, diesem Zweck. Sie sollen das Aggressionspotential des Menschen formen. Diesem Ziel dient auch die charakterliche und- ethische Kompetenz, die wir im Umgang mit den Mitmenschen im Laufe des Lebens erwerben. Sie muß eingeübt werden, genauso wie das Erlernen von Fähigkeiten in anderen Bereichen auch.

DIEFURCHE:

Sprechen Sie von Tugenden? Gabriel: An ~ sich ja. Doch das

Wort hat vielfach eine solche Bedeutungsverengung erfahren, daß man sich damit schwer tut. Vielleicht könnte man von „Haltungen” sprechen. Aber die Sache bleibt dieselbe. Es geht um die Einübung ethischer Kompetenz, um Situationen menschenwürdig, und das heißt friedlich, zu bewältigen. Übrigens ist dies auch für eine demokratische Gesellschaft äußerst wichtig. Warum? Weil das Private und das Politische letztlich korrespondierende Systeme darstellen. Mehr Gewalttätigkeit auf irgendeiner Ebene der Gesellschaft hat daher - jedenfalls auf lange Sicht -die Tendenz, auch andere Bereiche in Mitleidenschaft zu ziehen. DIEFjLJRCHE: Also zurück zu den Werten Klingt das nicht konservativ? Gabriel: Ich glaube, daß es bei vielen wachen Zeitgenossen ein gewisses Unbehagen an der gegenwärtigen Situation gibt. Das ist nicht als konservativ zu verstehen. Ich meine, es geht ganz einfach um die nüchterne Bück-frage nach den ethischen Bessourcen unserer Gesellschaft. Denn ähnlich wie bei den ökologischen sollen auch sie nicht unter ein bestimmtes Niveau sinken. Ich will hier nicht schwarzmalen. Aber die Tatsache selbst ist wichtig und wurde vielleicht manchmal zu wenig gesehen. Und hier kann das Erschrecken, von dem Sie sprachen, durchaus heilsam sein. Denn, um noch einmal auf die politische Ebene zurückzukommen, auch der demokratische Staat ist auf diese ethi -sehen Ressourcen, das heißt auf humane Verhaltensweisen im weiten Sinn angewiesen. Er kann sie aber selbst nicht schaffen.

DIEFURCHE: Läßt sieh die Forstellung vom „ökologischen Gleichgewicht” auf das menschliche Miteitiander übertragen^ gabriel: Eine Gesellschaft stellt, wie gesagt, ein Netzwerk menschlicher Beziehungen und Institutionen dar, die aufeinander sensibel reagieren. Die Anwendung physischer Gewalt bildet ja zum Glück weiterhin wenigstens in unseren Gesellschaften ein Randphänomen. Aber auch wenn sich eine egoistische Ellbogenmentalität durchsetzt, sinkt das „ethische Gleichgewicht” auf ein niedriges Niveau. Und Tendenzen in diese Richtung gibt es offenkundig.

DIEFURCHE: Was halten Sie von Gewaltfreiheit?' gabriel: Ich spreche persönlich lieber von Gewaltverzicht, um deutlich zu machen, daß es sich nicht um die Beschreibung eines Zustandes handelt, sondern darum, daß jemand bewußt darauf verzichtet, Gewalt mit Gegengewalt zu beantworten. Ein derartiger

Gewaltverzicht ist eine Forderung des Evangeliums. Die Schwierigkeit besteht darin, den Mut aber auch zielführende Mittel und Wege zu finden, um in einer konkreten Situation die Gewaltspirale effektiv zu durchbrechen.

DIEFURCHE: Wovon versprechen Sie sich weniger Gewalt in der jetzigen Situation? gabriel: Ich meine, man sollte sehen, daß in den letzten Jahrhunderten Schritt für Schritt eine Vielzahl von Instrumenten und Institutionen entwickelt wurden, durch die Gewalt effektiv eingedämmt wird. Denken Sie unter anderem an die Durchsetzung der Menschenrechte im modernen Bechtsstaat, an die Schaffung internationaler Regelungen und Organisationen, die Kriege verhindern sollen wie die UNO. Dieser Weg der Gewalteindämmung durch Institutionen muß weiter werden. Dazu sollten verstärkt Initiativen gegen Gewalt auf allen Ebenen der Gesellschaft kommen, zum Beispiel gegen Gewalt in der Schule. Hier kommt auch den christlichen Kirchen eine wichtig Aufgabe zu.

Es gibt aber auch den „Kampf gegen die Gewalt” in sich selbst, wo wir alle einen Beitrag leisten können. Dabei kann man davon ausgehen, daß trotz aller Korrum-pierbarkeit des Menschen durch Gewalt, es eine zutiefst menschliche Neigung gibt, gütig miteinander umzugehen. Hier könnte und müßte eine entsprechende (Selbst-)Erzie-hung ansetzen.

Das Gespräch führte

Elß Thiemer.

Zur Person

Ingeborg Gabriel wurde 1952 geboren. Nach dem Studium der Volkswirtschaftslehre und der Diplomatischen Akademie in Wien war sie zwischen 1976 und 1980 beim Entwicklungshilfeprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) zuerst in New York, dann in Nepal und der Mongolei im Rahmen der Programmerstellung und -koordination tätig. 1980 begann sie mit dem Theologiestudium in Wien und arbeitete als Assistenzprofessorin am Institut für Ethik und Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. In ihren Publikationen beschäftigt sich Frau Professor Gabriel besonders mit Fragen der biblischen Grundlegung der Ethik, der internationalen Ethik sowie des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft.

Das Buch zum Thema

„Gewalt in Europa. Ursachen, Hintergründe, Auswege” heißt das neue Buch von Ingeborg Gabriel Sie bietet darin in leichtverständlicher Sprache Denkimpulse, Argumentationshilfen und Auswege aus der sich schneller drehenden Spirale von Gewalt und Aggression in der heutigen Zeit. Konkret geht es um die vielfältigen Gewaltpotentiale unserer Zeit, angefangen von Kriegen, Terrorismus, Kriminalität, Rechtsextremismus, Gewalt unter Jugendlichen bis hin zum Tabu-Thema „Gewalt in der Familie”. Bequem ist dieses Buch nicht, denn die Autorin zeigt nur allzu deutlich, daß Gewalt nicht etwas ist, daß den einzelnen nichts angeht, weil sie immer nur „die anderen” betrifft. Im Gegenteil: niemand kann sich seinen Verantwortlichkeiten und Einflußmöglichken entziehen.

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