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Wir sind für den Osten kein Schaufenster mehr

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Rudolf Kirchschläger wird am 20. März 80 Jahre alt. Mit der Furche blickt er zurück und denkt voraus.

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Rudolf Kirchschläger wird am 20. März 80 Jahre alt. Mit der Furche blickt er zurück und denkt voraus.

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DIEFURcHE: Sie haben einmal als Buchtitel das Wort Karl Jaspers, „Friede beginnt im eigenen Haus”, gewählt Das war auch Programm Ihrer zwölfjährigen Amtszeit als österreichischer Bundespräsident Hat Osterreich dieses Programm erfüllt? Alt-Bundespräsident Rudolf Kirchschläger: Die Antwort ist schwer, ohne Schuldzuweisungen vorzunehmen. Wir Österreicher waren durch mindestens zwei Jahrzehnte hindurch, wahrscheinlich auch länger, für das kommunistische Europa, wenn ich von der Sowjetunion absehe, eine Art Schaufenster. Und wir haben diese Schaufensterfunktion, so meine ich, gut erfüllt. Ich persönlich bin der Meinung, es hätte die sogenannte Wende in der Tschechoslowakei, in Ungarn nie so friedlich vor sich gehen können und nicht mit dieser Energie, wenn die Menschen dort nicht ein wahrheitsgemäßes Bild von Österreich als einem westlichen Land gehabt hätten. Wir haben durch unseren Rundfunk, durchs Fernsehen, durch die vielen menschlichen Kontakte ein Bild unserer Lebensform vermittelt, das denen gezeigt hat, daß es sinnvoll ist, hier eine Wende tatsächlich durchzuführen.

DIEFURCHE: Eine innere Einheit mit diesen Ländern ist aber trotz unserer Schaufensterfunktion heute kaum mehr feststellbar.

KIRCHSCHLÄGER: Ich glaube, daß wir diese Mitte, die wir gewesen sind und auf die die Menschen in diesen Staaten -. geschaut haben, etwas verloren haben. Wir haben uns nach der Wende weniger diesen Staaten zugewandt und stärker nach Brüssel geschaut, nach anderen Zielen Ausschau gehalten. Und auch diese Staaten haben ihrerseits sehr schnell von den gesellschaftspoli -tischen Vorstellungen, die sie hatten, Abstand genommen und haben vornehmlich nur mehr den Wohlstand gesehen. Und diesen Wohlstand konnte man von diesen Staaten her schneller als über Wien über Bonn, Paris oder Brüssel erreichen. Und so ist das, was ursprünglich unter oftmaliger Zitierung der Geschichte eine organische Mitte gewesen ist, auf einmal in der Politik nicht mehr in diesem Maß dagewesen, sondern in einem weiten Sprung übersprungen worden, von Prag nach Paris, Brüssel oder Bonn. Und wenn wir denken, wie Präsident Havel damals Ehrendoktorate aus aller Welt erhalten und die Rednerpulte in den Nationalversammlungen fast der ganzen Welt heimgesucht hat, dann wissen wir, wo die Schwerpunkte momentan liegen.

DIEFURCHE: Haben wir uns zu wenig um unsere Nachbarn gekümmert' KlRCHSCHLÄGER: Ich glaube, wir haben unsere Mission etwas schnell aufgegeben. Und wir sehen heute, und das sehen auch die ehemaligen kommunistischen Staaten, daß die ökonomischen Blütenträume von Brüssel nicht so schnell reifen, daß es hier große Probleme gibt.

Manche von uns haben ein bißchen auch damit gerechnet, daß aus den ex-kommunistischen Ländern eine Stärkung der Familie, des Glaubens zu uns kommt, daß die geistige Potenz, die in den slawischen Völkern und in Ungarn vorhanden ist, stärker wirken wird.

DIEFURCHE: Papst Paul VI. hat darauf gehofft.

KlRCHSCHLÄGER: Paul VI. hat das geglaubt. Und auch ich habe ein bißchen damit gerechnet, weil ich die Stärke des Glaubens in diesen Ländern erlebt und gemeint habe, da müßte etwas ausstrahlen auf unsere doch eher oberflächliche Masse. Ich habe aber das Gefühl, daß der Strom, der von uns dorthin gegangen ist, leider stärker gewesen ist als der Gegenstrom, daß sich hier in der Kreuzung verschiedenes verhaspelt hat und daß letzten Endes auch in bezug auf die Religiosität jetzt nicht mehr der Verfolgungszustand, aber der laizistische Zustand von- früher vorherrscht, der zum Beispiel in der Tschechischen Republik doch ein sehr stark libe-ralistisches Element der Kirchenferne gehabt hat.

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