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Wir sind nur unterwegs

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Es hat midi ein wenig umhergetrieben, das muß ich zugeben. Es, das ist die Zeit, die du ja kennst, die Not. Das ist alles, was uns bedrückt, unsern Herzschlag stocken läßt.

Ich könnte dir von einer Stadt erzählen, einer fernen, kleinen Stadt, die wir niemals mehr betreten werden. So fern ist sie. Und es ist mehr zwischen uns gelegt als diese Entfernung. Es ist eine Stadt, die ihren Namen verloren hat. Ihren alten Namen. Und der neue paßt nicht für sie. Sein Klang wird ihr immer fremd sein. Und die Stadt wird hie so sein wie dieser reue Name. Darum sollst du den alten und den neuen Namen nicht erfahren. Es besagte nichts.

Dort, in dieser Stadt wohnten wir. Wir hatten einige Zimmer und die Fenster gingen ins Grüne hinaus. Sie blickten versonnen auf einen alten Weiher. Abends im Sommer kam das Quarren der Frösche zu uns. Jene eintönige, langatmige Musik. Ein mystischer Ton. Die Fledermäuse fielen wie schwarze Bälle durch die Luft und tauchten lautlos ins Dunkle.

So wohnten wir. Und die Wolken, die über unser Haus dahinzogen, wußten noch viel vom Meer, von der schimmernden Küste des Bernsteins, ahnten aber schon die Unendlichkeit der Wälder, die nicht mehr fern waren.

In dieser Stadt waren wir zu Hause. Die Menschen grüßten uns und wir grüßten zurück, und an den Abenden saßen wir beisammen, lasen oder musizierten. Die Teppiche saugten jeden Laut von unseren Schritten, die Bilder an der Wand atmeten, und mancher Buchrücken glühte auf im warmen Licht.

So war es. Und wir dachten, es würde immer so sein.

Dann gab man uns ein Gelaß zwischen St ll und Flur. In den feuchtdunklen Winkeln wimmelte es von Asseln und eck- ligem Getier. Für einen Ofen war Platz /und für einen Arm voll Stroh. Das war unsere Ruhestatt.

Diesen Raum hatte man uns überlassen, aus Gnade und Barmherzigkeit, wie man so sagt. Weil wir ein kleines Kind hatten und weil das Schicksal uns getroffen hatte, als es zuschlug.

Es war Winter und das einzige Fenster ließ sich nicht schließen. Erst als der Frost kam, fror es zu. Da hatten wir es gut. Nun pfiff der Wind nicht mehr durch das dunkle Loch.

Oft ließen wir die Tür zum Stall offen. Von dort kam gute Wärme. Aber die reichte nicht aus.

Wir froren uns die Hände blau. Unser Atem erstarrte zu kristallenen Blumen an den Fensterscheiben. Das Kind wurde krank und fieberte. Man gab uns aber kein Holz, und der ferne Wald war wie ausgefegt.

Einmal mußten wir Torf und grünes Holz stehlen. Einmal nur, dachten wir, damit wir es an einem gewissen Abend warm hätten. Doch die Wärme war zu schön und wir stahlen weiter. Uns hatte man das Heim, die Stadt, alles genommen, wir nahmen einige Ziegel Torf und grünes Holz. Nicht, weil wir stehlen wollten. Nein, aber man verkaufte uns nichts. Nicht einmal Milch für das Kind. Und neben uns standen zwanzig Kühe im Stall…

Es war ein harter Winter, Die Wände trieften vor Nässe. Das Stroh wurde in wenigen Tagen schwarz und stank, aber man gab uns kein frisches. So wohnten wir. Und die Dunkelheit fraß am frühen Nachmittag das Licht auf und spuckte spät am Morgen erst ein wenig wieder aus.

Ja, so war es. Und wir dachten, es würde immer so sein.

Aber wir arbeiteten uns hinauf. Wir fanden ein Zimmer in der großen Stadt. Fast schon ein Gemach. Zwar begannen die Fenster in Schulterhöhe. Das machte nichts. Dafür endete der schmutzige Mauerausschnitt außen nur ein wenig über dem Gehsteig. Die Gasse wußte wenig von der Sonne. Aber wir hatten ein Zimmer.

Wir sahen Menschen vorübergehen. Hörten Schritte, Stimmen, Kinderrufe, das Geflüster der Liebenden in den Nächten und das polternde Gröhlen der Betrunkenen.

Wir nahmen wieder teil am Lauf der Welt und hielten befangen die Hände hin, wenn uns das Schicksal bescherte. Wir zogen sie aber auch nicht zurück, wenn es uns auf die Finger klopfte. — Oh, und es klopfte manches Mal.

Im Sommer war es schön.

Pa hing am Nachmittag ein dünner Faden Sonne schräg im Zimmer. Nur für ein paar Minuten. Weiter nichts. Dann saßen wir still, legten die Hände auf die Knie und betrachteten das Wunder.

Nichts als ein dünner Faden Sonne! Eine schmale, leuchtende Bahn. Aber eine Welt bewegte sich darin, tanzte auf und ab, drehte und wand sich. Oh, es war schön, wenn man es recht betrachtete. Und wir konnten wieder froh sein. — Das Licht vergaß uns nicht.

Man summte eine kleine Melodie vor sich hin. Unbewußt. Aber das Leben wollte es so. Das Leben wollte keine versteinten Herzen. Das Leben! Bruder, man kann darauf pfeifen oder fluchen, wie man will, schön ist es doch.

Man hatte ein Zimmer, Kinder, eine Frau.

Und abends wieder ein Bett.

Ja, so war es. Und wir dachten, es würde nun immer so sein.

Sag, was du willst. Wir sind wie Korke, die aus dunkelsten Tiefen nach oben trei- beri. Bis uns das Licht wieder hält und die Freude und das, was hinter beiden und allem steht.

Sieh, wir haben wieder ein paar Zimmer. Nicht so viel wie früher. Aber man soll nicht nach dem Gestern fragen. Im Sommer kommt abends vom alten Strom- arm das Quarren der Frösche zu uns. Jene eintönige Musik. Dieser lange mystische Ton. Die Fledermäuse zerreißen mit ihrem Geflatter die Dämmerung und fallen ins Dunkle.

Manchmal grüßt uns noch die ferne Stadt. Die Stadt, deren Straßen wir alle kannten. Jetzt vergessen wir ihre Namen. Das bringt die Zeit mit sich. Mit jedem Tag geht sie mehr von uns fort, und wir werden sie auch nie mehr sehen. Niemals mehr. Und es tut auch nichts, daß wir die Namen ihrer Straßen vergessen, wo die Stadt selbst nun ganz anders heißt.

Sie wurde uns genommen. Aber man hat uns nicht alles nehmen können.

Die Erinnerung verblaßt, aber nicht alles fällt zurück in Vergessenheit.

Wir wurden hinabgestoßen und wir stiegen wieder hinauf.

Jetzt sehen in unsere Fenster die Berge hinein. Uns winkt der Strom. Die Menschen grüßen wieder und wir grüßen zurück.

Und abends sitzen wir beisammen, sprechen oder schweigen. Manchmal sind wir auch fröhlich. Dann atmen die Bilder an der Wand und die Buchrücken glühn.

Ja, so ist es.

Aber wir wissen nicht, ob es nun immer so sein wird ..,

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