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Wir sind Utopia

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Das braune, eintönige Plateau lag unter der jeden Tag gleich wiederkehrenden Sonne zerpulvert da, und um das Gefährt, das in den sanften Senkungen des Weges verging und wieder hügelan strebte, hatte sich eine so dichte Staubwolke gebildet, daß man nur an seiner Schnelligkeit, dem Benzingestank und dem nachmittägig langen Schatten einen Lastkraftwagen erkennen konnte. Die wenigen Häuser des kleinen Ortes starrten mit schwarzen Fenstern ausgestorben in den Sonnenbrand. Die enge, düstere Gassenrinne fuhr der Wagen langsam dahin, wiewohl kein Mensch, weder Zivilist noch Soldat, ihm begegnete, und auf dem weiten, gleißenden Platz nahm. er die Kehre, und im Schatten vor der Freitreppe der in ihrem starrenden Prunk unfreudig wirkenden Barockfassade des Karmeliterklosters stand er dann still.

Unter der Pforte erschien auf das groblässige Signal des Lastwagens hin ein rotspanischer Offizier, von einem Sergeanten und einem Soldaten begleitet, welche die Ankömmlinge mit düster gleichmütigen Blicken empfingen.

Die sechs Bajonette sprangen sofort auf das Pflaster, ein Kommando schnarrte, und die Lehmgestalten erhoben sich mühsam, traten ein paarmal hin und her und sprangen ebenfalls, die eingeschlafenen Füße zuvor möglichst tief herabkommen lassend, vorsichtig auf das Pflaster.

Es waren über zwanzig Gefangene, die im Karmeliterkloster untergebracht werden sollten. Seine Geräumigkeit und vergitterten Fenster machten den Bau für seine neue Bestimmung noch geeigneter, zudem lag das Kloster mit der Hinterfront an der Stadtmauer, und da ging es aus den Fenstern des ersten Stockes über fünfzehn Meter tief jäh hinunter, und das war ein weiterer Vorteil für den Wachhabenden, denn das etwa zweihundert Gefangene beherbergende Lager konnte so mit seiner schwachen Besatzung auskommen.

Bevor der Lastwagen, der die Gefangenen gebracht hatte, wieder abfuhr, gab es noch einen kleinen Zwischenfall, den der junge Leutnant von der Freitreppe her mit Aufmerksamkeit verfolgte. Er sah, wie einer der Gefangenen auf dem Wagen stehenblieb, die Rechte vor die Stirn drückte und das Kloster, den Kopf in den Nacken legend, anstarrte. Einer der Soldaten hob darauf das Gewehr und stieß den Dastehenden mit dem Kolben in die Kniekehlen, so daß seine großgewachsene Gestalt auf die Knie brach, und das wirkte wie ein seltsam gutpassender Übergang zu seiner vorhergehenden Stellung. Darauf sprang der lange Kerl, als die Soldaten lachten, mit einem unerwartet gelenkigen Satz vor sie hin, blickt sie einmal der Reihe nach fragend und stolz, aber keineswegs zornig an und ging zu den andern, und die Bajonette begleiteten die Gefangenen in das Kloster, wo sie eine Weile im Schatten des Kreuzganges stehenbleiben mußten.

Der Leutnant musterte sie einzeln an Hand einer Liste, die ihm einer der bajonettetragenden Soldaten der Begleitmannschaft hinhielt, und ließ sich von dem Soldaten Alter und Truppengattung sagen — denn die Gefangenen hatten meist ihre Uniformblusen an die Sieger abgetreten, oder auch in der Hitee irgendwo absichtlich zurückgelassen. Als der Soldat „Paco Hernan-des“ las, „53. Marineinfanterie“ — blickte der Leutnant sich fragend um; doch der Soldat mit der Liste wies nach kurzem Umherspähen auf einen Mann, der langsam im Gärtchen inmitten des Kreuzganges auf den Ziehbrunnen losging, und der Leutnant bemerkte sofort: es war derselbe, der auf so seltsame Weise das Kloster angeblickt und gegen seinen Willen die Knie gebeugt hatte.

Die Gefangenen standen schläfrig und todmüde gegen die Mauern im Kreuzgang gelehnt. Man hörte nur den langsamen Schritt des Mannes im Binnenhof-gärtchen, der Weg war mit Kies bestreut.

Der Schritt des Mannes im Gärtchen aber hatte nun den Ziehbrunnen orreicht, der, aus grauem Stein gebaut, wie ein Blütenkelch aus dem Efeu herauswuchs. Nun hob er den Eisendeckel und blickte in den Brunnen. Seine Bewegungen, so kam es dem Leutnant vor, hatten etwas von dem blinden Gezogensein von Selbstmördern, und so sprang er, für das unersetzbare Quellwasser fürchtend, auf den Ahnungslosen zu und fuhr ihn an: was er da an dem Brunnen verloren habe? Der so scharf Gefragte hob das große Gesicht aus der Tiefe und blickte den Leutnant an, und zwar auf eine so wenig erschrockene und gleichmütige Weise, daß es den jungen Offizier zum Zorn reizte.

„Oh — ich?“ sagte der Mann und lächelte, „ich wollte in den Brunnen schauen, tun Sie das nie, Teniente Don Juan?“ Der Leutnant starrte die von der Hitze aufgesprungenen lächelnden Lippen an, sein Zorn war verflogen, er sagte nur verwundert: „Juan? — So heiße ich doch gar nichtl“ „Nein? —

Ach, richtig, verzeihen Sie, mein Leutnant hieß so, er ist ja tot, richtig!“

Der junge Offizier nannte darauf, er wußte selbst nicht, wie er dazu kam, seinen Namen — er heiße Pedro — Pedro Gutierrez. „Ach so!“ Der andere nickte. „Ich heiße Paco.“ „Und Sie wollten wirklich nur in den Brunnen schauen?“ „Ja, tun Sie das nie?“ Der lange Paco blickte nun in ebenso erstaunten Fragen auf den nicht gerade groß gewachsenen Leutnant herab, der den Gefangenen mit kurzem Kopfschütteln musterte.

„Haben Sie Durst?“ „Eigentlich immer, jetzt sogar auf Wasser, aber man kann ja auch ohne Durst in einen Brunnen schauen, oder nicht, Teniente Don Pedro?“

Der Leutnant klappte den eisernen Deckel einmal auf und zu, er blickte dabei auf die Erde, eigentlich auf die gänzlich zerrissenen Schuhe des Gefangenen. „Warum haben Sie eigentlich — vorhin“, begann er dann, die buschigen Brauen zusammenziehend und Paco anstarrend, „dies Theater aufgeführt?“ „Zu gnädig, Teniente Don Juan — ach, Don Pedro —, ich gewöhne mich so schwer an neue Namen, und Plätze — wissen Sie — und doch“, Pacos Gesicht wurde plötzlich nachdenklich, er schien offensichtlich zu überlegen, ob er weitersprechen sollte oder nicht; doch dann mit einem Blick den Kreuzgang umfassend, nickte er, als habe er sich zu etwas entschlossen. „Eigentlich ist das kein neuer Platz für mich, und eigentlich war's auch kein Theater, daß ich vor dieser Hausfront solche Augen machte — und so hätte ich eine kleine Bitte —“ Er blickte zu der sandsteinernen Treppe hin, die nach oben führte. „Eine große sogar — daß Sie mir meine alte Zelle wiedergeben!“

Als Paco sah, wie der Leutnant ihn anglotzte, nickte er begütigend. „Nun ja, es sind aber beinahe schon zwanzig Jahre vergangen, seit ich hier auszog, die Zelle jedoch, verstehen Sie, Don Pedro — ein Hund gewöhnt sich sogar an seine Hütte, nicht wahr?“

An den Augenwinkeln des so im scherzenden Tonfall sprechenden Mannes entstanden kleine Falten, die voll Erwartung zitterten, sein Ausdruck bekam davon etwas Listiges.

„Sind Sie Priester?“ fragte Leutnant Gutierrez leise, fast vertraulich, eine Stimme bekam einen heiseren Belag. Paco hob das Gesicht ein wenig zurück und blickte den jungen Offizier prüfend an: „Was wollen Sie mit dieser Frage?“ Aber nun begannen sich die Falten in seinen hageren Backen auch schon wieder zu regen. „Sie fragen das so feierlich, und ich, müssen Sie wissen, bin eigentlich von Beruf Matrose, Vollmatrose auf einem Frachter! Was ich zur Zeit bin, sehen Sie ja, Pech, nicht wahr! Der Krieg fegte mich einfach über Bord, und nicht nur das, er schwemmte mich hierhin — als hätte er Verstand, der Krieg, oder als wäre er witzig! Und da dachte ich, man könnte diesem Zufall die Krone aufsetzen und mich in der alten Zelle einsperren — oder sind die Gefangenen anderswo untergebracht: im Refektorium, in der Bibliothek, im Keller?“

Leutnant Pedro Gutierrez schüttelte den Kopf: „In den Zellen, natürlich! Aber sind Sie nun wirklich Priester?“ Und er zupfte sich nervös an seinem Schnurrbärtchen, Paco unverwandt anstarrend. Der hob die ein wenig hängenden Schultern und nickte: „Aber exkommuniziert natürlich!“ Leutnant Pedro ließ nun mit einem kurzen ruckhaften Zerren sein Schnurrbärtchen los und halb schon im Fortgehen rief er: „Gott noch mal, das sind wir sozusagen alle.“ Und sich noch einmal umkehrend, sagte er leise: „Kommen Sie.“

Da man die Gefangenen aus Sicherheitsgründen nur im oberen Stockwerk untergebracht hatte und in den vier Gängen nur etwa vierzig Zellen zur Verfügung standen, mußten die meisten zu mehreren hausen, und Leutnant Pedro kam sich wirklich wie ein Gönner vor, als er Paco die Zelle räumen ließ, welche dieser ihm, mit Lächeln und Kopfschütteln über die roten Fliesen einher-schreitend und plötzlich stehenbleibend mit ausgestreckter Hand angezeigt hatte: „Hier — hier war es —, hier wohnte Padre Consalves!“

Paco war auf das Bild rechts von der Türe zugetreten, einen vergilbten Kupferstich in Lorenzo Tiepolos feiner, flaumleichter Manier. „Sogar derselbe Heilige noch — sehen Sie —: Sanctus Franciscus Borgia, Confessor.“ Paco blickte einmal den leeren, gewölbten Gang hinauf und hinunter. „So ein Ort hat's doch an sich, wie? Unverwüstlich, dieser Hauch an den Wänden — und dabei ist doch mancherlei hier passiert, wie?“

Der heiter vor sich Hinsprechende wandte sich mit den letzten Worten, als sei er plötzlich erschrocken, an den jungen Offizier. Der grinste nur, ging dann und ließ den Gefangenen allein — mit seiner Zelle.

Paco legte sich auf die Pritsche, und wie er zur Decke hinaufstarrte, entdeckte er einen Rostflecken. — Wie? — War das noch derselbe von vor zwanzig Jahren? Nicht gut möglich, Padre Julio, sein Nachfolger, hätte ihn nicht so lange geduldet, aber Wasserflecken schlagen durch, sooft man sie auch zukälkt, und er war nun sogar noch ein Stück gewachsen. Paco seufzte.

Es war wirklich dieselbe Landkarte seines Traumreiches, seiner Insel der Seligkeiten und des dionysischen Weinstocks, sein Utopia im weiten, weißen Meer der Kalkdecke, die Hyperboräer seiner Bettstatt, die er jede Nacht vor dem Einschlafen und oft auch im Traum besuchte, um dort, auf einem Esel umherziehend, alle jene Predigten, die von den acht Seligkeiten und die vom Allvereiner Dionysos zu halten, welche ihm in der Wirklichkeit auch nur niederzuschreiben verwehrt waren.

Er beichtete schließlich seinem alten Dogmatikprofessor, dem Padre Damiano, seine Fahrten nach Utopia. Der zog die Brauen zusammen — er war ein unsagbar nüchterner Mystiker! — und ihm mit der Hand das Gesicht zu sich heraufhebend — Padre Consalves kniete vor ihm in der Zelle —, knurrte er nur: Wechseln Sie die Zelle oder lassen Sie Ihre Insel zustreichen, oder noch besser: Fahren Sie nicht mehr hinüber. Vergessen Sie nicht: noch keiner hat die Welt zu einem Utopia reformieren können, keiner, selbst Er nichtl Wenn Sie bedenken, Padre Consalves, daß die ganze Welt eine Börse ist (Padre Damiano war früher ein bekannter Bankier gewesen), und wenn Sie sehen, wie schlecht die Aktien Gottes stehen und Sie trotzdem kaufen, dann denken Sie also etwa heimlich: Wollen sehen, man kann nie wissen!? — Ich kann Ihnen sagen, Sie spekulieren daneben! Kaum haben Sie gekauft, schon sinkt der Kurs von neuem, sinkt, sinkt und sinkt. Sie gelten allgemein als ein Trottel, man lacht sie aus.

— Sie behalten aber das Papier — Sie behalten es, nun ja, weil Sie es ohnehin nicht mehr anständig loswerden; wegwerfen, ja, das wohl, aber verkaufen? — Sie wissen ja, die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes. Und nun beginnen Sie heimlich und leise, um Ihre wertlos gewordene Aktie doch vielleicht wieder auf den Markt zu bringen, ein Utopia zu gründen, irgendwo, keiner hat es gesehen, aber Sie erzählen davon, ach ja, was das Christentum alles doch bewirken könne, und das Ergebnis: ein richtiger Bankkrach! Die Leute erfahren: das gibt es ja gar nicht, dieses Utopia, diese erlösten, friedlichen Christen, diese losgelösten, nur nach dem Ewigen trachtenden Priester, überhaupt dies besondere Leben, das die Erde liebt, wie nur die Heiden es können, und zugleich für nichts erachtet, wie es den Christen aufgegeben ist, nein, dies besondere Leben, das gibt es ja nicht. Die Christen sind nicht anders als die übrigen Menschen, und wenn das dann wieder neuerdings feststeht, dann muß Ihr Utopia als ein Schwindelunternehmen angesehen werden, und was sind Sie dann? Und wo gehören Sie hin? Ich sage Ihnen, ins Gefängnis, genau wie dieses und jenes Finanzgenie, das am Mississippi oder in Alaska eine Gesellschaft gründet, die nur auf dem Papier existiert.“

Paco hatte damals flehentlich die Hände erhoben: „Ja, aber unser Glaube? Christus hat doch gesagt, daß wir noch größere Zeichen und Wunder als er verrichten würden.“ Padre Damiano lachte grob: „Oh, gewiß! Das größte Wunder ist nämlich, an diese scheinbare faule Aktie zu glauben, und nicht einmal, weil das in der Offenbarung steht, das könnte ja ebenfalls ein leeres Versprechen sein, sondern weil unser Herz erkannt hat: die Aktie ist echt. Hier ist der Weg, die Wahrheit und das Leben

— und nicht da und nicht dort, wenigstens nicht für mich. Und nun sei treu und kühn, glaube, hoffe und vor allem liebe! Und deine Aktie gibt dir mehr als ein Utopia: sie gibt dir den Mut, ein Mensch zu sein, dem nichts mehr schadet und den nichts mehr enttäuscht! Denn alles ist euer, sagt Paulus, ihr aber seid Gottes.“

Paco hatte noch einmal die Hände gehoben: „Ja, aber Padre, wenn das Leben der Christen sich in nichts unterscheidet von dem der anderen, wenn es nicht mehr und nicht schönere Früchte trägt, ist dann noch eine Ursache vorhanden, die Wahrheit dieses Glaubens als verbürgt anzunehmen? Dann kann ich ja auch ebensogut bei den alten Göttern bleiben!“

Padre Damianos breites, dickes Gesicht verdüsterte sich, er stülpte die Lippen vor und seine blutunterlaufenen, immer tränenden Augen verkniffen sich. „Wenn Sie den Christen damit insgesamt einen Vorwurf machen, richtet sich dieser Vorwurf gegen die Majestät Gottes! Denn wir sin,d nach seinem Willen so, wie wir sind, wir Menschen insgesamt. Und merken Sie sich, Padre Consalves, es gibt kein Innerhalb und Außerhalb der Kirdie. Nur das eine ist umumstößlich: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Die Liebe aber ist die diskreteste Tugend, und sie kann in Verwandlungen auftauchen, wo wir sie gar nicht mehr erkennen. Sie wollen die strahlenden Früchte der Christen sehen, die alles überstrahlenden! Ach du lieber Himmel, wenn das so exakt statistisch festzustellen wäre, hätte die ungetaufte Menschheit alle Eile, innerhalb vierundzwanzig Stunden sich taufen zu lassen, aus lauter Tugendkonkurrenz. Gottes Denken ist nicht so praktisch, so rechnerisch, so gewaltsam!“ Und dann neigte sich der Alte zu Padre Consalves Ohr: „Gott geht nicht nach Utopia! Aber auf diese tränenfeuchte Erde kommt Er — immer wieder! Denn hier ist unendliche Armut, unendlicher Hunger, unendliches Leid! Gott liebt das ihm ganz Andere, liebt den Abgrund, und Er braucht — verstehen Sie mich um Seines heiligen Namens willen recht — braucht die Sünde! Sie verstehen mich. Er ergießt sich. Er erneuert. Gott liebt die Welt, weil sie unvollkommen ist. — Wir sind Gottes Utopia, aber eines im Werden!“

Paco auf seiner Pritsche seufzte. Die Landkarte an der Decke war von der schon hereinbrechenden Dämmerung ganz überspült worden. Versunken im Meer die gelben Küsten, die weißen Städte, die friedlichen, heiteren Menschen — und in der Ferne bellte irgendein Geschütz. Und der bronzene Gong summte. Und Padre Damiano war — ach, er mußte den schrecklichen Leutnant doch noch ein wenig ausfragen, ehe... Was würde die kommende Nacht noch alles bringen?

Utopia — wie recht hatte der alte Dogmatiker — war die Schuld an seinem Austritt.

Paco hatte das Klopfen nicht gehört und auch nicht, als der Riegel sich bewegte. Er hielt sich nur die Ohren zu, ein Hund bellte laut, und als Don Pedro plötzlich in der Dämmerung neben ihm stand, erschrak er keineswegs, er ließ erschöpft die Arme sinken. „Was ist los?“ frug er den Leutnant.

Don Pedro trat auf ihn zu. In seinen Augen stand ein seltsames Zittern. „Sie sind doch Priester, nicht wahr?“ begann er. „Sie wissen also, was ein Beichtgeheimnis ist. Ich werde Ihnen jetzt etwas unter dem Beichtgeheimnis sagen: Soeben bekam ich den Befehl, Sie und alle übrigen Gefangenen zu — liquidieren. Ich habe einmal Jus studiert. Ich weiß genau, auch wenn Sie ein exkommunizierter Priester sind, ist Ihre Weihe gültig und im Fall des articulo mortis haben Sie das Recht, den Sündern die Lossprechung zu geben. Ihre Kameraden werden nun in das Refektorium geführt, unter dem Vorwand, vor dem Weitertransport eine kleine Stärkung zu erhalten. Bei dieser Gelegenheit werden Sie ihnen die Generalabsolution geben, ja? Und dann ...“ Don Pedro ging wieder zur Tür, drehte sich noch einmal um. „Sie sind erstaunt? Ich selbst habe keine Erklärung. Vielleicht bin ich schon zu sehr erschüttert durch diesen Krieg und will irgend etwas Gutes tun. Vielleicht auch können wir Spanier nicht ohne Gott leben. Vielleicht glauben wir alle irgendwie an ihn, die einen in Liebe, die anderen in Haß. Ich weiß es nicht.“ Don Pedro schob den.Riegel zurück und verließ wieder die Zelle.

Paco hörte die Gefangenen auf dem Flur trappeln. Wie die Mönche, wenn sie zum Mitternachschor gingen! Deus in adjutorium meum intende. Er trat hinaus, hörte Don Pedros Stimme; oh, wie schamlos lügt er jetzt. Kleine Stärkung im Refektorium einnehmen? — Im Refektorium? Vor dem Transporti Kleine Stärkung, das ist nicht übel. Paco mußte plötzlich lachen. Er betrat das Refektorium als letzter. Der rechteckige Raum war an drei Wänden entlang mit Tischen bestellt, genau so wie früher. An der leeren Schmalseite befand sich der Speiseschalter, der mit einer hölzernen Schiebetür versehen war. Sein Rollen hatte stets etwas Freundlich-Verheißen-des gehabt, wenn beim Ende der Schriftlesung, prompt hinterm Klopfzeichen der Laienbrüder, sich das Brett in Bewegung setzte und die Küchendüfte hereinließ; jetzt aber war das hölzerne Geviert noch verschlossen.

Leutnant Pedro stand den Gefangenen gegenüber, die zu Boden starrten, gleichmütig einander ansahen oder den jungen Offizier trotzig musterten. Leutnant Pedro erklärte kurz: Der Transport zum großen Gefangenenlager sei nicht ohne Gefahr — und da ein Priester unter den Gefangenen sei, wolle der, bevor man sich stärke, die Generalabsolution erteilen. Damit verließ er mit kurzem, ruhigem Schritt den Saal.

Paco stand die Schamröte im Gesicht. Er schämte sich, weil er plötzlich aus seiner Verborgenheit als Soldat hervortreten sollte und überdies — er schämr.e sich vor Pedro, weil der wußte, daß er nun sterben sollte. Das war eine seltsame Scham, die er noch nie gespürt hatte. Wie 'eine partielle Entblößung vor einem unberufenen Auge, aber noch viel feiner, hilfloser, empfand er sich in seinem Todgeweihtsein vor diesem Wissenden, der soeben hinausgegangen war aus der unheimlichen Arena und den Tod befahl, ohne selber mitzusterben. Und so trat er unbeholfen, schwerfüßig und fast schwankend vor die Gefangenen hin. Aber auch ihnen, den Ahnungslosen gegenüber, schämte er sich nun, als er das Zeichen des Todes auf ihren Stirnen las, auf Stirnen, die sich in kleinen Gedanken kräuselten oder glatt und gleichgültig im Augenblick schienen. Und er durfte ihnen nicht sagen: Ihr seid verloren! Er sagte nur: Ja, er sei Priester und wolle sie lossprechen. Er erklärte mit kurzen Worten die Generalabsolution, dann bestieg er in einer plötzlichen Eingebung das Lesepult, auf dem er so oft gesessen und vorgelesen hatte. Das Podium verlockte ihn, so glaubte er zuerst, aber dann merkte er: es war die Nähe des Speiseschalters, die ihn anzog, ja, und jetzt ahnte er auch, woher die kleine Stärkung kommen sollte, jetzt ahnte er, daß dort ein Maschinengewehr stand. Er stand, dem Schalter den Rücken zukehrend, da. Es fiel ihm schwer, die Gefangenen anzublicken. Sie wollten nicht sterben, das sah man ihnen an.

Ein Teil der Gefangenen kniete bereits, ein Teil blieb stehen, doch ohne Protest: sie waren nur zu verlegen, um sich hinzuknien; ein paar stießen sich mit dem Ellbogen an und flüsterten etwas, ein breitschultriger Kerl, dicht vor dem Lesepult, schmunzelte breit und nachsichtig, er hob das rechte und dann das linke Bein, stellte die Fußspitzen breit auseinander. Vielleicht war es ein Matrose I

Pacos Stimme kam mühsam, doch schlicht und sicher, er lächelte sogar, als er sagte, daß man im Kriege sei und nie wissen könne, von welcher Seite es einen schnappe. Es solle darum ein jeder, der etwas auf dem Herzen habe — nicht nur Sünden, sondern Sorgen und Kummer — an Gott so denken wie an die Frau und die Kinder zu Hause, wie an Vater und Mutter. Und mit derselben Sehnsucht, wie an die Lieben, sollten sie an den Vater im Himmel denken. Und keiner solle Gott die Schuld von alledem geben, sondern den Menschen und auch sich selber. „All unsere Gewaltsamkeit ist zusammengekommen, und jetzt tobt sie sich aus“, so sagte er und fast eilig fügte er bei: „Aber Kameraden, ergeben wir unsl Gott richtet und Gott ist gnädigI“ Dann sprach er die Gebete, er kannte sie noch, Wort für Wort. „Indulgentiam, ab-solutionem ed remissionem“ — Nachlassung, Lossprechung und Verzeihung eurer Sünden —, welche Häufe von Güte in so juristisch kalten Worten, dachte er. Und als er das Kreuzzeichen machte und sein „Amen“ stark in den Saal schickte, hörte er jenen wohlvertrauten Ton der Schiebetür hinter sich, noch ganz so verheißungsvoll wie früher. Ein jähes Rattern erfüllte die Wände, als fahre ein eiserner Sichelwagen unsichtbar durch den Saal. Paco hörte einen Schrei und sah den breitschultrigen Mann vor sich die Arme in die Höhe werfen, rechts von ihm fielen einige Männer um, während er selber, einen Schlag zwischen den Schultern verspürend, nach hinten sank, sanft, als fange ihn die Unendlichkeit eines weichen Abgrundes auf, in den er ewig sinken könnte, ohne je hart auf einen Grund aufstoßen zu müssen. (Aus dem gleichnamigen Roman, erschienen im Verlag Ulrich Riemerschmidt, Berlin)

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