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Wird Frankreich faschistisch?

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Der Kampf um Algerien hat zu einer Verkrampfung der französischen Seele geführt. Die ohnmächtige Wut, die dieser Kampf gegen einen kaum zu fassenden Feind auslöst, hat in vielen Franzosen — und nicht den schlechtesten! — den in diesem Lande nie erloschenen Nationalismus zur Gluthitze entfacht. Und man wundert sich nur, daß dieser Nationalismus noch nicht seine für unser Jahrhundert typische Steigerungsform erreicht hat — mit anderen Worten: daß Frankreich noch keine mächtige faschistische Bewegung besitzt. Es gibt wohl eine Anzahl kleiner faschisierender Zirkel und Geheimbünde. Es gibt auch schon Ansätze zu Bürgerkriegsarmeen dieses Lagers; der bedeutendste darunter dürften die von dem korsischen Advokaten Biaggi inspirierten „Freiwilligen der Französischen Union" sein, die wir zu Beginn des Jahres im Pariser Velodrom d’Hiver mit Brandbomben und Tränengas eine Großveranstaltung von Mendės- France sprengen sahen. (Die Polizei der Regierung Mollet schaute sich damals die Geschichte mit verschränkten Armen an bis zu dem Augenblick, wo die „Biaggisten“ in der Riesenhalle Feuer zu legen begannen.) Aber eine Großbewegung, die alle diese Ansätze sammelt, gibt es bis heute nicht.

DAS PULVERFASS

In den letzten Jahren ist zwar immer wieder versucht worden, eine solche Sammelbewegung auf die Beine zu stellen. So wurde vor etwa vier Jahren von dem Rechtsanwalt Tixier- Vignancour in einer stürmischen Versammlung in der Pariser Salle Wagram der „Rassemblement National“ gegründet. Aber mehr als eine Sekte wurde daraus nicht, und Tixier-Vignancour blieb in der französischen Innenpolitik ein Einzelgänger (wenn auch ein Einzelgänger von hohem politischen Können). Der zweite Anlauf versandete Anfang 1956, als der politisch unbegabte Nur-Redner P o u j a d e unter dem Eindruck seines Wahlerfolges die Chance nicht nützte, Tixier-Vignancour, der sich dazu anbot, zu seinem „Stabschef“ zu machen. So verlief sich auch diese Welle.

Dabei wäre der Boden für eine faschistische Großbewegung leider fast schon bereitet. Seit der Menděsismus als letzte bedeutende Reformbewegung innerhalb des Rahmens der parlamentarischen Republik gescheitert ist, dürfte es nicht mehr allzu viele Franzosen geben, die für diese Republik zu sterben bereit sind. Und der französische Kommunismus, mit dem sich die Linksgruppen vor zwei Jahrzehnten zur „Volksfront“ zusammentaten, um die faschistische Welle des 6. Februar 1934 zurückzuschlagen, ist seit Budapest isolierter denn je in seiner Geschichte.

Vor allem aber hat sich der nötige soziale Zündstoff angesammelt. Nach der Definition der Wissenschaft ist der Faschismus „ein autoritäres Regime der Rechten auf kleinbürgerlicher Basis, gestützt durch eine Aufwallung des sentimentalen Nationalismus, das zu Polizeimethoden Zuflucht nimmt“. So hat es zumindestens die Dominikanerzeitschrift „La Vie Intellectuelle" formuliert. Und solcher Zündstoff ist im französischen Kleinbürgertum durchaus da. Frankreich hat die soziale Entwicklung der Nachbarstaaten, welche die beste Garantie gegen den Extremismus zu sein scheint, nicht mitgemacht: nämlich jene allmähliche Einschmelzung der alten Klassen in eine einzige, breite Mittelschicht, die gleichmäßiger als früher an der Prosperität teilnimmt. So ist das übermäßig wuchernde Kleinbürgertum zusammen mit stagnierenden Teilen der Bauernschaft zur eigentlichen Belastung der französischen Wirt- schaft geworden. Diese Schichten wissen, daß jede Reform nur auf ihre Kosten vor sich gehen könnte. (Daher hat der radikalste Reformversuch der Vierten Republik, eben der

Menděsismus, als Gegenschlag den Poujadismus hervorgerufen.) Und gerade diese Schichten haben im Poujadismus gelernt, daß auch andere Kräfte als das Proletariat auf die Straße gehen können...

FUNKEN AUS ALGERIEN

Hinzu kommen mußte allerdings noch ein radikalisierendes Element. Der Verlust Indochinas berührte nicht allzu große Schichten des Landes. Mit dem Ausbruch des Algerienkrieges vor drei Jahren wurde das anders. Der sich verstärkende Auflösungsprozeß des französischen Kolonialreiches liefert zusätzlich ideologischen Zündstoff; dieser wieder vermag Bevölkerungsteile mitzureißen, deren materielle Interessen nicht unbedingt mit denen des Kleinbürgertums identisch sind. Es ist kein Geheimnis, daß sich seit Beginn des Algerienkrieges große Teile des französischen Volkes in dem Zustand befinden, den die Psychologen als „frustration" bezeichnen: für den „Franęais moyen“ sind die Vorgänge schwer durchschaubar, die zum Einziehen der Trikolore in einer Kolonie nach der anderen führen; er fühlt sich betrogen und verraten, und das nationalistische Gefühl, das die Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen will, bäumt sich auf.

Der Algerienkrieg liefert aber nicht nur die gefühlsmäßig-ideologische Disposition für einen Faschismus — er liefert auch die Fonds und die Stoßtrupps. Die bedrohten Interessengruppen haben beträchtliche Reptilienfonds gesammelt und berieseln damit die seit Anfang 1956 überall hochschießenden rechtsextremistischen Grüppchen und Blättchen eifrig, sofern diese willens sind, die Sache der Kolonialisten zu verfechten. Und was die Stoßtruppen betrifft, so darf nie vergessen werden, daß Algerien, wie jedes Auswanderungsgebiet, einen aktiveren weißen Bevölkerungsteil beherbergt als das Mutterland. Das betrifft nicht zuletzt die „kleinen Weißen", die in ihrer Existenz bedrohter sind als die „großen Colons", die ihre Positionen leichter zu liquidieren vermögen. Sie hauptsächlich bilden den Personenstand jener in Algerien tätigen extremistischen Organisationen, die man „die Ultras" nennt.

Zu ihnen stoßen außerdem Teile der Frontkämpfer. Diese sind in Kolonialkriege brutalster Art hineingewachsen — erst in Indochina, dann in Nordafrika — und haben eine demütigende Niederlage nach der anderen hinnehmen müssen. Und die nach Dien-Bien-Puh schmerzlichste dieser Niederlagen, die von Suez, war nicht einmal eine militärische Niederlage: mit den Waffen siegreiche Truppen mußten auf Grund einer politischen Schlappe der französischen Regierung den von ihnen besetzten Boden räumen. Kein Wunder, daß sich unter diesen Frontkämpfern, oft mit Orden aus drei Kriegen ausgezeichnet, genügend Aktivisten finden, die dem beunruhig- .ten Kleinbürgertum die fehlende Angriffsspitze zu schaffen mögen.

DER FEHLENDE FÜHRER

Warum also doch noch keine mächtige faschistische Bewegung? Es kann nur teilweise damit erklärt werden, daß der von Algerienminister Lacoste repräsentierte Flügel des kleinbürgerlichen Nationalismus innerhalb der so heterogenen Sozialistischen Partei — manche sprechen maliziös von einem „nationalen Sozialismus“, andere wieder von „Molletismus" — diese Energien mitverkörpert. Tiefer führt schon der Hinweis auf die traditionelle Zerrissenheit des französischen Rechtsextremismus. Hat dessen Spaltung in einen deutschfeindlichen (die Neo- Royalisten um Maurras) und einen deutschfreundlichen Flügel (die eigentlichen Faschisten) auch an Bedeutung verloren, seit das Verhältnis zum östlichen Nachbarn ein Problem zweiten Ranges geworden ist, so ist dafür eine andere Spaltung bis heute kaum überbrückt. Wir meinen die Spaltung, die durch die Namen Pétain und d e G a u 11 e markiert wird. Die recht zahlreichen Rechtsextremisten, die sich — ohne vom General besonders dazu ermuntert zu werden — auf de Gaulle berufen, bekommen von den Rechtsextremisten, die 1944 noch im anderen Lager, dem Vichys, gestanden sind, stets die gleichen Vorwürfe zu hören.

Der Name de Gaulles führt übrigens noch zu einem anderen wichtigen Umstand, mit dem das bisherige Ausbleiben einer größeren faschistischen Organisation erklärt werden kann: das Fehlen eines Führers. De Gaulle ist nicht nur durch jenen Graben gehandikapt. Er scheint auch gar nicht gewillt zu sein, eine solche Rolle zu spielen. Hat er nicht erklärt, daß „man das Vaterland nicht zweimal retten könne"? Hat er nicht sarkastisch bemerkt, man erwarte wohl von ihm, daß er „den Pétain für Friedenszeiten“ spiele? De Gaulle hat zwar aus seiner Ablehnung des „Systems“ seit langem kein Hehl gemacht. Aber ein Staatsstreich scheint diesem Menschen der Ordnung fernzuliegen; er scheint die Macht nur durch eine freiwillige Abdankung dieses Systems zu seinen Gunsten übernehmen zu wollen.

Der andere große Soldat, Marschall J u i n, hat sich nie um die Bildung einer eigenen politischen Hausmacht bemüht, sondern sich nur zu gelegentlichen Unmutsäußerungen gegenüber dem „System“ hinreißen lassen. Zudem ist er letztes Jahr in aufsehenerregender Weise vom stur kolonialistischen Standpunkt abgerückt und hat beinah „menděsistische“ Gedanken über Nordafrika geäußert. Er scheidet also auch aus, obwohl man im rechtsextremistischen Lager zeitweise in diesem Offizier, der sowohl unter Pétain wie unter de Gaulle gedient hat, den geeigneten Ueberbrücker jenes Grabens gesehen hat. Was bleibt sonst noch? P o u j a d e, ein oratorischer Massenbeweger von hohen Graden, hat sich auf politischer Ebene als großer Versager erwiesen. Tixier-Vignancour ist eine überragende Intelligenz, der jedoch jede mythosbildende Kraft abgeht. Und nach ihm kommen schon geringere Figuren. Der sechzigjährige „Bauernfaschist“ Dorgėres etwa, dessen Glanzzeit in den dreißiger Jahren liegt, Maitre Biaggi, der Advokat, das „enfant terrible" L e P e n und andere mehr.

EINE POLITISCHE „MUTATION"

All das genügt jedoch noch nicht, um das merkliche Stocken der faschistischen Welle zu erklären, die noch um die Jahreswende 195 6/57 unaufhaltsam zu sein schien. In diesem Frühjahr hat sich in der französischen Politik eine jener seltsamen „Mutationen" vollzogen, die jedes Problem in ein neues Licht rücken. Ihr sichtbarstes Symptom, keineswegs jedoch ihre Ursache, waren jene Enthüllungen über französische Unmenschlichkeiten in Nordafrika, die auch außerhalb von Frankreichs Grenzen Äuf sehen erregten. Es konnte zu diesen Enthüllungen überhaupt nur kommen, weil innerhalb des politischen Lagers, das bis dahin hinter dem Algerienkrieg stand, Zweifel am eigenen Weg aufgetaucht zu sein schienen.

Die eigentliche Sterilität des französischen Rechtsextremismus beruht darin, daß in ihm ein Element verstärkt auftritt, das nach Meinung mancher Frankreichkenner ein Erzübel der französischen Innenpolitik überhaupt ist: wir meinen die Jagd nach Sündenböcken. Ein Hauptmerkmal jener geschilderten „frustration“ des Durchschnittsfranzosen ist, daß er die Ursache für die französischen Niederlagen selten in eigenen Fehlern sucht, sondern in mysteriösen Komplotten eigener Minderheiten mit dem Ausland.

Der Mythos vom Dolchstoß — „Frankreich geht am Verrat zugrunde“ — hielt bis zu Beginn dieses Jahres die französische Rechte zusammen. In der zermürbenden täglichen Berührung mit der nordafrikanischen Wirklichkeit scheinen sich nun aber seit einiger Zeit gerade Kräfte der äußersten Rechten zu fragen, ob die Ursache all der Katastrophen im Kolonialreich wirklich bloß bei einigen „Verrätercliquen" in Paris liegen könne. Könnte sie nicht vielmehr in erster Linie bei überholten politischen Methoden im eigenen Lager zu suchen sein? Immer häufiger sind unter den Rechtsextremisten jene weißen Raben zu finden, die sagen: „Nein, nicht am Verrat, sondern an der Dummheit geht Frankreich zugrunde!“ Gewisse Verschiebungen und „Absprünge“ unter dem Personal auf dem äußersten rechten Flügel der französischen Politik lassen erkennen, daß die erste bedeutsame faschistische Welle dieser Nachkriegszeit ihre ursprüngliche und so bedrohliche Geschlossenheit verloren hat.

Was aus dieser „Mutation“ entstehen wird, kann noch nicht vorausgesagt werden. Ein Glück nur, daß die Kommunisten, die immer noch im Schatten Budapests leben, heute wohl auch mit Hilfe der Sputniks nicht in der Lage sind, die Enttäuschten aufzufangen — so wie jene faschistische Welle ihrerseits so viele über die Abwürgung des Mendėsismus Enttäuschte aufgefangen hatte. Ob aber die so laue „Mitte“ diese Chance zu nutzen weiß? Wir fürchten, daß dort jenes „Loch" bleiben könnte, das die große Chance jeder neuen faschistischen Welle ist — ja, das einen neuen Faschismus geradezu ansaugen könnte. Und dieser Faschismus wäre dann vielleicht weniger naiv als derjenige der Aera Lacoste ...

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